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Archiv-Artikel

Sieg der Bequemlichkeit

Literarische Entdeckung und treffendes Porträt der französischen Gesellschaft in den Jahren 1940/41: „Suite française“, ein nachgelassenes Romanfragment der jüdischen Exilrussin Irène Némirovsky

Irène Némirovskys Hass übernimmt nie die Kontrolle über ihre Erzählung

von KARSTEN KREDEL

Im Hause Péricand herrscht helle Aufregung: Jede Minute können die Deutschen da sein, zum Glück ist das Tafelsilber bereits verstaut, doch die bestickten Laken, unverzichtbare Erbstücke, sind noch in der Wäscherei und verzögern den Aufbruch. Selbst großzügigste Bestechungsgelder helfen offenbar nicht mehr. Was für Zeiten, armes Frankreich!

Man befindet sich im Krieg und wird innerhalb kürzester Zeit sang- und klanglos unterliegen. Doch zunächst wälzt sich ein Flüchtlingstreck aus Paris in die Provinzen, eine lange Kolonne erschöpfter Fußgänger, die der Hunger nicht davon abhält, schadenfroh zu registrieren, dass die Herrschaften in ihren Autos auch nicht schneller vorankommen. Hinter den Scheiben der Fahrzeuge ekeln sich blasierte Großbürger vor dem Anblick der stumpfen, hässlichen Masse. Man wünscht sich gegenseitig zum Teufel und ist sich sicher, in den Himmel zu kommen. Auf dem Wagendach der Péricands ist eine Matratze festgeschnallt. Die Kastanien blühen, der Sommer bricht an, und die Franzosen offenbaren sich in ihrer nackten Menschlichkeit.

„Suite française“ ist ein nachgelassenes Romanfragment von Irène Némirovsky, das im vergangenen Jahr in Frankreich für Furore sorgte. Jetzt kann man dank einer gelungenen deutschen Übersetzung erleben, warum: Es ist nicht nur ein treffendes Porträt der französischen Gesellschaft der Jahre 1940/41, verfasst unter dem Eindruck von Besatzung, Kollaboration und Flucht, sondern auch eine literarische Sensation – multiperspektivisch erzählt, schnörkellos, sprachlich reich, voller Zartgefühl und ganz unsentimental.

Némirovsky, Exilrussin aus reichem Hause, wurde 1929 für ihren Debütroman gefeiert, ein Jahrzehnt lang hofiert und 1940 ihrem Schicksal überlassen. Sie zog mit ihrer Familie aufs Land, trug den gelben Stern, erwartete das Schlimmste – und legte das Erlebte unter das Vergrößerungsglas der Literatur. Sie schrieb täglich, hoch konzentriert. Im Juli 1942 wurde sie nach Birkenau deportiert, wo sie bald nach ihrer Ankunft starb. Zwei Teile einer groß angelegten Romansymphonie waren abgeschlossen, fünf hatten es werden sollen. Ihre zwei Töchter überlebten versteckt den Krieg; es war eine von ihnen, die das Manuskript aus dem Koffer nahm, in dem es über sechzig Jahre geruht hatte, und einem Verleger zur Veröffentlichung übergab.

Ein Ort namens Vichy kommt darin nicht vor. Weltanschauung, Politik, das Spektakel des Krieges – nichts davon interessiert Némirovsky. Sie blickt auf die Individuen, lässt deren Reaktionen das Geschehen spiegeln, zwingt sie zum Handeln – zum praktischen moralischen Offenbarungseid. Ihre „Suite française“ ist eine vielstimmige Komposition, in der scharf umrissene, sprechende Gesten die Akzente setzen. Sie offenbaren Kleinherzigkeit und Dünkel, Gier und Grausamkeit, aber auch, selten zwar, Anstand und Würde. Die meisten entblößt der Krieg als hysterische, bauernschlaue Krämerseelen. Die Reichen sind niederträchtig, die Armen sind nicht besser, nur ärmer, und Glauben allein macht noch lange keinen Gerechten. Am schlechtesten schneiden die Vertreter der geistigen Elite ab: der absurd selbstgefällige Schriftsteller, der an die magische Wirkung seines Namens glaubt wie andere an die Macht des Geldes; der Kunstliebhaber, der den Krieg aus ästhetischen Gründen ablehnt. Nirgendwo aber offenbart sich Némirovskys Pessimismus deutlicher als in der erschütternden Darstellung einer Gruppe von Waisenkindern, die sich als Wolfsrudel entpuppen und triebhaft töten – die Benachteiligten geben nicht mehr Anlass zur Hoffnung als die Privilegierten.

Hoch geschätzt wird vor allem eines: Bequemlichkeit. Die Wirklichkeit von 1940 ist unbequem, also redet man lieber von 1870 und 1914, trägt andauernd den Namen des Vaterlandes auf den Lippen und ist selbst als Elender unter Elenden noch davon überzeugt, etwas Besseres zu sein– kurz, man greift nach einer komfortablen Fiktion, so wie es später die Nation als Ganzes tun wird. Auch das hat Némirovsky vorausgesehen: „Wenn man bedenkt, dass niemand es erfahren wird, dass es mit einem solchen Lügengespinst umwoben werden wird, dass es am Ende als ein weiteres ruhmvolles Kapitel der Geschichte Frankreichs erscheinen wird.“

Die Arbeitsnotizen der Autorin, abgedruckt im Anhang des Romans, lassen erahnen, wie verbittert sie über den Verrat Frankreichs gewesen sein musste. Ihre vielleicht größte Leistung besteht darin, dass der Hass nicht die Kontrolle über ihre Erzählung nimmt. Fein dosiert sie ihr Gift, subtil lässt sie es in den Blick der Figuren auf sich selbst einsickern und gesteht selbst der schlimmsten Kanaille einen Rest an Unergründlichkeit zu. Liest man parallel ihre gerade in einer neuen Übersetzung erschienene Erzählung „Der Ball“ aus dem Jahr 1930, ein brillantes, gestochen scharfes Kammerstück über einen Machtkampf zwischen Mutter und Tochter, dann fällt auf, wie groß ihr Interesse an der menschlichen Seele – und ihre Gabe zur Sektion derselben – war. Was ihrer Stimme umso mehr Gewicht verleiht.

Irène Némirovsky: „Suite française“. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Knaus Verlag, München 2005, 511 Seiten, 22,90 € Irène Némirovsky: „Der Ball“. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Claudia Kalscheuer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005, 104 S., 12,90 €