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Archiv-Artikel

Die Entdeckung der Bilanzen

Die Literatur ist ein Abfallprodukt der Vergangenheit und braucht viel, viel Zeit: Mit seinem gewaltigen, lang erwarteten Briefroman „Neue Leben“ begibt sich Ingo Schulze erstmals in die DDR und das Wendejahr 1990 und macht dabei Altenburg endgültig zu einer der Hauptstädte der deutschen Literatur

Ingo Schulzes „Neue Leben“ steht in der Tradition des Künstlerromans „Es ist ungewohnt, ohne Zukunft zu leben“, sagt Enrico Türmer

von JÖRG MAGENAU

In der kleinen, wenig beachteten Erzählung „Mr. Neitherkorn und das Schicksal“ setzte Ingo Schulze sich mit der schwierigen Frage auseinander, ob es so etwas wie ein Schicksal gebe. „Schicksal ist schlicht das Leben, das man ändern müsste. Aber das kommt selten vor“, hieß es dort. Jetzt legt er, nach siebenjähriger Arbeit, ein opulentes Werk vor, in dem er die Veränderung des Lebens auf der großen historischen Bühne untersucht. „Neue Leben“ heißt dieser gewaltige Roman in Briefen, der in der ersten Hälfte des Jahres 1990 spielt, also in der Epoche, in der die Bewohner eines ganzen Landes aufgefordert waren, ihre Lebensentwürfe zu revidieren. Die Wende war nicht nur ein politischer Umsturz. Sie bestand für jeden Einzelnen in der Herausforderung, sich in den veränderten Verhältnissen neu zu erfinden.

Mehr als 15 Jahre sind seitdem vergangen. Entgegen dem unmittelbar nach 1990 einsetzenden Händeringen in den Feuilletons, wo denn der große Wenderoman bleibe, dauert es eben so lange, wenn das Geschehen mit literarischer Genauigkeit und Geduld beschrieben werden soll. In „Simple Storys“ und „33 Augenblicke des Glücks“ erzählte Ingo Schulze Geschichten aus der Nachwendezeit. Nun hat er sich erstmals an die Vorzeit gewagt, als der Osten noch der Osten war.

Rund 750 Seiten braucht er, um den Stoff, den diese biografische und weltpolitische Zäsur bietet, aufzubereiten. Kein Abschnitt dieser anekdotenreichen und lebensprallen Geschichte ist langweilig. Zunächst wirkt Schulzes Prosa zwar ein bisschen spröde. Er ist kein Wortmagier, sondern ein sorgfältiger Erzähler. Doch er schafft es, von Brief zu Brief Spannung und einen großen epischen Bogen aufzubauen. Man will wissen, wie es mit diesem Enrico Türmer weitergeht, dessen Name nach Fluchtbereitschaft, Hochstapelei und sakralem Eremitendasein klingt. Man wird diesen vorsichtigen, aus dem Abseits beobachtenden Helden– eine Art Alter Ego Schulzes, dessen Lebensstationen denen des Autors entsprechen – nicht mehr vergessen. In langen Briefen an drei verschiedene Adressaten gibt er Auskunft über sein Leben, den gesellschaftlichen Wandel und seine eigene Wandlungsfähigkeit. Türmer erklärt sich und sein vergangenes DDR-Leben der westdeutschen Fotografin Nicoletta Hansen, die er zunächst schwärmerisch umschmeichelt, dann aber bloß noch als Medium benutzt, das ihn zum Sprechen bringt. Diese Briefe reichen von der Kindheit und Schulzeit im gutbürgerlichen Dresden über die Monate als Rekrut der NVA in Oranienburg im Jahr 1981 und das Studium in Jena bis zur Arbeit als Theaterdramaturg im thüringischen Altenburg und bis in die Wendezeit hinein. „Eigenartigerweise sind Sie der einzige Mensch, dem gegenüber ich mich frei fühle, von meiner Vergangenheit zu sprechen und zu erklären, warum ich so geworden bin, wie ich bin“, schreibt Türmer in einem altertümlich gewundenen Stil. Er wirkt wie ein Vertreter des frühen 20. Jahrhunderts, eine Nachfahre Musils oder Thomas Manns.

„Neue Leben“ steht in der Tradition des Künstlerromans und variiert den klassischen Konflikt zwischen Künstler- und Bürgertum im DDR-Ambiente. In der Dresden-Novelle „Titus Holm“, einer Keimzelle des Romans, wollte Ingo Schulze den bürgerlichen Tonfall mit der sozialistischen Wirklichkeit konfrontieren.

Parallel dazu setzt Türmer seinen Jugendfreund Johann von den alltäglichen Ereignissen im Frühjahr 1990 in Kenntnis. Am Theater hat er gekündigt, um sich der Arbeit in der Redaktion einer bürgerbewegten Wochenzeitung zu widmen, die aber rasch zu einem Anzeigenblatt mutiert. Er begreift, dass die Ökonomie über das Politische dominiert. Die Bilanzen ersetzen die Ideologie. Hier beginnt das „neue Leben“, und so ist es kein Zufall, dass auch Türmers Liebesbeziehung mit der Schauspielerin Michaela in die Brüche geht. Führt der erste Erzählstrang auf die Wende zu, so führt dieser zweite davon weg. Dazwischen stehen eher kurze Briefe an die Schwester Vera, die von familiären Dingen handeln und damit gewissermaßen von Kontinuität und bleibenden Zusammenhängen.

Doch damit nicht genug. Schulze erfindet einen fiktiven Herausgeber namens Ingo Schulze, der Türmers Briefe Jahre nach dessen unfreiwilligem Abgang aus Altenburg sammelt und kommentiert. In seinem Vorwort ist zu erfahren, dass Türmer die Stadt Ende 1997 fluchtartig verlassen hat und enorme Schulden zurückließ – ein Fall, der an die spektakuläre Pleite des Immobilienmaklers Jürgen Schneider erinnert. Doch dem Herausgeber ist nicht zu trauen, weil er selbst in die Ereignisse involviert ist und sich mit besserwisserischen Fußnoten wichtig macht. Im Anhang stehen dann ein paar Erzählungen von Enrico Türmer – darunter die Novelle „Titus Holm“. Schulze konnte damit seine eigenen Annäherungen ans Thema als Schreibversuche Türmers aus der DDR-Zeit ausgeben. Türmer benutzt sie nun als Manuskriptblätter, auf deren Rückseite er seine Briefe schreibt. Somit sind seine Lebenserzählung und die literarischen Versuche ineinander verschränkt. Die Literatur ist die Folie des Lebens – und umgekehrt. Anders gesagt: Die Literatur ist ein Abfallprodukt der Vergangenheit, das Türmer gleichermaßen verwirft und öffentlich macht.

Diese Verknüpfung ist der eigentliche Clou des Romans. Enrico Türmer, 1961 geboren und damit ein Jahr älter als sein Autor, hat sich stets als Schriftsteller imaginiert. Die Entdeckung des Lesens, die ersten Notizen und Schreibversuche nehmen in seinen Erinnerungen breiten Raum ein. Er träumte davon, mit seinem ersten Buch in der DDR in Ungnade zu fallen und im Westen als Dissident gefeiert zu werden. Diese Erwartung machte ihm das Leben in der DDR erträglich, ja geradezu kostbar. Jede Demütigung verwandelte sich in Material für den zukünftigen Ruhm. Den Dienstantritt bei der Armee kommentiert er mit dem Satz: „Bevor ich meine Fundstücke präsentieren konnte, musste ich hinab in die Unterwelt und mich umsehen.“

Der Schriftsteller inszeniert sich als Zeuge. Doch weil er in seiner Stube stoffsüchtig alle Dialoge mitschreibt, wird er dort für einen Spitzel gehalten und zusammengeschlagen. Ironie der Geschichte: Der Beobachter ist nicht so unabhängig von den Verhältnissen, wie er glaubt.

Die DDR war eine dichotomische Welt. Die kommunistische Ideologie versprach eine rosarote Zukunft, für die es sich lohne, die Mängel der Gegenwart zu erdulden. In den realen Hoffnungen der Menschen aber rückte der Westen an die Stelle dieses religiösen Jenseits. Dort drüben war Erlösung zu erhoffen, wenn es im eigenen Land nicht mehr weiterging. Massenhaft rannte die DDR-Bevölkerung im Herbst 1989 diesem Glauben hinterher. Doch paradoxerweise war mit dem Mauerfall damit Schluss. Mit dem Osten verschwand der zugehörige Westen. Auch Enrico Türmers Ost-West-Karriere-Modell zerplatzt. Ein erster, in filigraner Beobachtungsgenauigkeit notierter Westberlin-Besuch trägt maßgeblich dazu bei. „Es ist ungewohnt, ohne Zukunft zu leben“, sagt Türmer jetzt.

Er, der im Oktober eher widerwillig bei Demonstrationen und Protestaktionen mitgemacht hat, verfällt nun in eine Starre, verpuppt sich wochenlang im Schlafsack. Erst nachdem er sich von seinen Künstlerträumen verabschiedet hat, kann er sich auf die neue Zeit einlassen und entdeckt eine Gegenwart, die so aufregend ist wie nichts zuvor. Es ist ein glücklicher Einfall Ingo Schulzes, eine Zeitungsredaktion zum Mittelpunkt der Handlung zu machen. Nirgendwo sonst wäre einer, der einmal Schriftsteller sein wollte und sich nun als Geschäftsmann entpuppt, besser aufgehoben. Nirgendwo ließe sich der Kosmos der Altenburger Provinzwelt besser entfalten, ließe sich in alle Geschäfts- und Gesellschaftsbereiche hineinblicken.

Altenburg, schon in „Simple Storys“ Ort des Geschehens, ist mit „Neue Leben“ endgültig zu einer Hauptstadt der deutschen Literatur geworden. Ingo Schulze, das ließ er in mehreren Interviews verlauten, denkt bereits darüber nach, die Geschichte weiterzuschreiben. Doch es ist gut möglich, dass es bis zum nächsten Band wieder sieben Jahre dauern wird.

Ingo Schulze: „Neue Leben“. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze. Berlin Verlag, Berlin 2005, 794 Seiten, 22 €