Zwischenauftenthalt Berlin

Diese Woche startet in Neukölln eine Plakataktion mit Piktogrammen von Frauen. Initiator ist das Kollektiv Migrantas. Parallel läuft eine Ausstellung, die Befindlichkeiten in der Fremde nachgeht

VON WALTRAUD SCHWAB

„Piktogramme sind die Bildsprache der Flughäfen. Piktogramme sind globalisierte Schrift“, sagt Estela Schindel. Die gebürtige Argentinierin ist eine der drei Künstlerinnen des „Kollektiv Migrantas“, das derzeit an nahezu hundert Neuköllner Bushaltestellen Beispiele dieser internationalen Bildsprache präsentiert.

Im Mittelpunkt der ausgestellten Plakate steht eine weibliche Figur. Ähnlich jener, die auf den Türen von Damentoiletten hängt: ein Kreis als Kopf, ein Körper, dessen Geschlecht durch den Rock angedeutet ist, zwei Striche als Arme, zwei Striche als Beine. Die Figuren auf den Plakaten in Neukölln drücken in ihrer gestalterischen Reduktion jedoch mehr aus als bloße Hinweise auf WCs.

Eines der Piktogrammposter zeigt eine Frau von der Seite. Sie ist schwanger mit gerundetem Bauch. „Wird es dazu gehören?“, ist unter dem Bild zu lesen. Auf einem anderen stehen sich zwei weibliche Figuren gegenüber. Die eine kommt normiert daher: Kopf, Körper, Extremitäten. Sie steht einer weiblich kodierten Figur gegenüber, deren Kopf von einem wallenden Blau umrundet ist. Es könnte ein Tuch sein, aber auch eine fantastisch gestylte Frisur. „Sind wir anders?“, heißt es im Text unter den beiden Figuren. Ein drittes Plakat zeigt eine Frau, die mit zerrissenem Herzen auf zwei Kontinenten steht.

Die Piktogramme drücken die Unsicherheit aus, in die Frauen geworfen werden, die ihre Herkunftskultur verlassen. Die alten Zuschreibungen zwischen hier und dort, gleich und anders, eigen und fremd, die sie von vorher kannte, lösen sich im neuen Land auf.

Im Stadtraum werden nur drei Entwürfe aus einer zwanzigteiligen Serie gezeigt. Die restlichen sind in der Galerie im Saalbau zu sehen. In der dortigen Ausstellung wird deutlich, wie die Piktogramme entstanden sind. Denn Estela Schindel und die zwei ebenfalls in Argentinien geborenen Künstlerinnen Marula di Como sowie Florencia Young – alle leben seit Jahren in Berlin – haben sich monatelang mit mehr als 100 Berlinerinnen kurdischer, türkischer, arabischer, bosnischer, griechischer und osteuropäischer Herkunft getroffen. Sie haben mit ihnen über das Leben in der Fremde gesprochen und sie animiert, ihre Gefühle zu skizzieren. Auf Grundlage der dabei entstandenen kleinen Zeichnungen wurden die Piktogramme entwickelt. Weil die Initiatorinnen des Projekts selbst Migrantinnen sind, sei bei den Treffen so etwas wie eine Komplizenschaft untereinander entstanden, berichtet Schindel. Anders als bei den Projekten, die Deutsche für MigrantInnen initiieren, „war bei uns der Abstand zwischen Entwicklungsgeberinnen und Entwicklungsnehmerinnen geringer“.

In den gemeinsamen Gesprächen wurde deutlich, dass die meisten Migrantinnen ihren Aufenthalt in Berlin im Grunde immer als vorübergehend empfänden und dass sie sich fragten, wo ihre Wurzeln sind. Zeit, Sprache, Ungewissheit, Entwicklung, Identität waren einige der Kristallisationspunkte, um die es in den Diskussionen immer wieder ging. Auch „Heimat“ war so ein Stichwort. „Ich weiß nicht wo, aber Zuhause ist in mir“, schrieb eine Frau neben die von ihr gezeichnete Figur. Das Kleid, das sie anhatte, sah wie ein Haus aus. Für die Künstlerinnen war dies die ideale Vorlage für ein Piktogramm. Auf die Frage, wie die deutsche Sprache auf sie wirke, zeichnete eine andere einen Berg, den nur Alpinisten bezwingen können. Auch dieses Skizze wurde in ein Piktogramm umgesetzt.

Die Schwierigkeiten in der Fremde nehmen in den Diskussionen und Zeichnungen einen großen Raum ein. Die Chancen allerdings werden auch nicht ausgeklammert. Einige der Zeichnungen zeigen deutlich, dass sich Frauen in Deutschland freier entwickeln konnten, als sie es in ihren Herkunftsländern hätten tun können. Eine gebürtige Libanesin etwa zeichnet eine Treppe, auf der sie und die Kinder nach oben steigen, ihren Mann aber schickt sie nach unten.

Deutlich wurde in den Gesprächen zudem, wie wichtig die modernen Kommunikationsmittel für die Migrantinnen sind. Eine Griechin machte eine Skizze, auf der zwei telefonierende Frauen jeweils in ihrer eigenen Zelle stehen, nur das Kabel verbindet die beiden. Ihre Mutter frage sie bei jedem Gespräch, ob sie auch gegessen habe, berichtete die Griechin. In der Skizze einer anderen haben sich die Proportionen zwischen Telefon und Mensch verschoben. Das Gerät ist ganz groß. Das Piktogramm, in dem eine Figur ein riesiges, Halt gebendes Telefon umarmt, spricht demnach für sich.

Wenn Piktogramme die Schrift der globalisierten Welt sind, muss niemand sie mehr lernen, um sie lesen zu können. Umgekehrtes gilt sogar: Die Schreiber müssen die Gedankenwelt der Menschen, die sie dechiffrieren sollen, kennen, bevor sie die sich selbst erklärenden Zeichen entwickeln können. Eine der wichtigsten Kulturtechniken der Neuzeit, die Lese- und Schreibkompetenz, wird demnach wieder zu einem Privileg weniger. Das Piktogrammprojekt des Kollektiv Migranta weist in diese Richtung, denn unter den befragten Frauen waren auch Analphabetinnen.

„Lauter Bilder von Migrantinnen“ ist bis zum 30. 10. zu sehen, in der Galerie im Saalbau, Karl-Marx-Str. 141, Mo. bis So. 12–18 Uhr. www.migrantas.com