: Kaschmirs Obdachlosen droht der Tod
Kofi Annan warnt vor einer drohenden „zweiten Katastrophe“ im Erdbebengebiet. Noch immer hat viele Betroffene im pakistanischen Teil Kaschmirs keinerlei Hilfe erreicht. UN-Hilfskoordinator Jan Egeland fordert „zweite Berliner Luftbrücke“
AUS DELHI BERNARD IMHASLY
Nachdem schon mehrere UNO-Spitzenbeamte in immer dramatischeren Worten von einer „Katastrophe in der Katastrophe“ gewarnt hatten, hat am Mittwoch UN-Generalsekretär Kofi Annan persönlich einen neuen Appell zur Hilfe der Erdbebenopfer an die Welt gerichtet. Annan sprach vom drohenden Tod von tausenden Obdachlosen, falls nicht rasch Hilfe für sie eintrifft.
Annan kritisierte die Weltgemeinschaft dafür, der Rhetorik großzügiger Hilfe keine Taten folgen zu lassen. Von den von der UNO für Soforthilfe veranschlagten 312 Millionen US-Dollar, sagte Annan, seien bisher nur 37 Millionen (12 Prozent) auch überwiesen worden. Mit den zusätzlich eingegangenen unverbindlichen Zusagen summiere sich dies auf 84 Millionen oder nur 27 Prozent.
Die Schwere des Bebens, die Armut der Bevölkerung, die gebirgige Topografie und die Jahreszeit machen nach Meinung der UNO die Rettungsarbeit zu einer der schwierigsten, der die Welt je gegenüberstand. Die Zerstörung der Infrastruktur – Straßen, Spitäler, Schulen, Wasserversorgung – bedeutet laut Annan, dass die Langzeitfolgen des Bebens ebenso schlimm werden können wie die unmittelbaren Schäden für Menschen und Materialien.
„Zehntausende“, sagte Annan, seien von den Rettungsarbeiten noch nicht einmal berührt worden. Lokale Helfer setzen die wirkliche Zahl viel höher an. Rund eine halbe Million sei von jeder Hilfe abgeschnitten, sagte der Vertreter eines deutschen Hilfswerks in Muzaffarabad. Der UN-Generalsekretär forderte die Mitgliedstaaten dringend auf, nächste Woche an der internationalen Hilfskonferenz für Pakistan in Genf teilzunehmen.
Die Vertreter der UN-Hilfsorganisationen sprachen noch deutlichere Worte. So warnte das Kinderhilfswerk Unicef vor dem drohenden Tod von zehntausend Kindern. Die meisten seien aufgrund ihrer chronischen Armut gesundheitlich angeschlagen und der drohenden Kälte nicht gewachsen. Der oberste UN-Hilfskoordinator Jan Egeland wurde noch deutlicher. Er warf der internationalen Gemeinschaft vor, ihrer Verantwortung nur ungenügend nachzukommen. Beim Tsunami im letzten Winter hätten 92 Länder Hilfe gespendet – im vorliegenden Fall seien es bisher nur fünfzehn bis zwanzig. In Bezug auf die logistischen Probleme sei die jüngste Katastrophe aber „viel schlimmer als der Tsunami“. Egeland forderte die Weltgemeinschaft auf, „eine zweite Berliner Luftbrücke“ zu errichten.
Die Nato hat inzwischen einen Anfang gemacht. Von ihrem türkisch-kurdischen Luftwaffenstützpunkt in Incirlik begannen am Mittwoch erste Transportflüge von Nahrungsmitteln und Zelten. Die weitere Verteilung durch Helikopter wird durch die bevorstehende Ankunft von zwanzig weiteren US-Helikoptern verbessert, zusätzlich zu den 17 amerikanischen Chinooks, die bereits im Einsatz sind. Deutschland hat gerade zwei Helikopter zur Verfügung gestellt.
Zelte bilden nach wie vor die wichtigste Priorität für die Flüge ins Einsatzgebiet, da die Zahl der Obdachlosen nun auf nahezu drei Millionen Menschen geschätzt wird. Für die Rückflüge werden praktisch nur Schwerverletzte transportiert. Rund 67.000 Menschen sind laut Angaben von Egeland „ernsthaft verletzt“, doch nur 11.000 konnten bisher medizinisch versorgt werden.
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