Milchman und Eierfrau

So potent die Sprache, so schlaff das Resultat: Franzobels Roman „Das Fest der Steine oder Die Wunderkammer der Exzentrik“

VON JÖRG MAGENAU

Die klarste Struktur hat das Inhaltsverzeichnis. Die sieben Kapitel sind den sieben Todsünden zugeordnet, sodass man sich im Lauf der 640 Seiten von Völlerei über Wollust, Neid und Zorn zu Stolz, Traurigkeit und Habgier vorarbeitet. Welcher Begriff über welchem Kapitel steht, ist egal, denn alle sind gleich maßlos und überdreht. „Jetzt wird es wüscht“, sagt eine der Hauptfiguren bei jedem ihrer Auftritte. Dasselbe über Franzobels Roman „Das Fest der Steine“ zu sagen wäre eine Untertreibung.

Von einer „Orgie der Fantasie“ ist am Ende dieser abstrusen Handlungsverschlingung die Rede. Erzähler ist Danny Milchman, ein verkrüppelter jüdischer Zwerg, Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes und kundig in Hypnosetechniken. Sein Zuhörer ist zugleich sein Gefangener: ein mit neonazistischen Emblemen auf der Jacke ausgestatteter Hermaphrodit. Jude und Neonazi, Zwerg und Zwitter – oder, mit Franzobel’schem Humor formuliert: Milchman und Eierfrau – befinden sich auf der Autofahrt von Buenos Aires nach Patagonien. Warum und weshalb, das ist beim besten Willen nicht zu begreifen. Vielleicht deshalb, weil die Nazis in der Antarktis das Reich der Hyperboreer vermuteten, einer Art Urarierstamm. Es könnte auch etwas mit dem Diskus von Phaistos zu tun haben, der im Handschuhfach des Erzählers liegt. Am Ende ist aus dem jüdischen Jäger und seinem Häftling ein bizarres Liebespaar geworden. Schicksalhafte Verbindung? Symbolische Vereinigung? Tja. Wer in diesem Roman nach Sinn und Bedeutung sucht, ist verloren. Der Wille des Autors versetzt Berge. So etwas wie Logik oder auch nur Wahrscheinlichkeit interessiert ihn nicht.

Die sieben Kapitel sind mit Buchstaben gekennzeichnet, die das Wort „Milgram“ ergeben. Wie das Lösungswort in einem Kreuzworträtsel lässt sich eine Botschaft aus dem Inhaltsverzeichnis dechiffrieren. Es verweist auf das berühmte Milgram-Experiment, bei dem Versuchspersonen unter Anweisung eines Versuchsleiters einen „Schüler“ mit immer stärkeren Stromstößen bestrafen müssen, wenn der falsche Antworten gibt. Das Experiment belegt, wie weit der Gehorsam der Probanden geht: Ein hoher Prozentsatz ist bereit, Stromschläge auszulösen, die sie für äußerst schmerzhaft, ja sogar für tödlich halten müssen. Franzobel bringt das Milgram-Experiment in Zusammenhang mit dem bürokratischen Gehorsam von Adolf Eichmann, der im Roman als „Eichmännchen“ eine bescheidene Rolle spielt. „Das Fest der Steine“ ist ein Buch über den Faschismus als eine „Bauchkrankheit“, der rational nicht beizukommen ist. Man muss sich, so sagt der Hypnose-und-Telepathie-Zwerg Danny Milchman, ihm also auch auf der „Bauchebene“ nähern, „weil das etwas ist, was direkt im Bauch entsteht, gärt und betrunken macht.“

Also gärt es in diesem Roman wie in einem Komposthaufen. Da wird gefurzt, was das Zeug hält. Es wird gerammelt oder, wie Franzobel sagt, „Tschuckitschucki“ gemacht und in jedes verfügbare Loch hineingefickt, auch in rohes Fleisch und Hirnmasse. Da geht es in manchen Teilen geradezu splatterhaft zu, so in der titelgebenden Episode, die mit einer plastisch geschilderten Steinigung endet. Das Opfer ist naturgemäß ein Jude, der einst die Vernichtung von Lidice überlebte. Frauen werden vorzugsweise als „Fickschweinchen“ bezeichnet oder gut Wienerisch als „Nocken“, „Zezen“ oder „Trutscheln“.

Natürlich hat diese demonstrative Unkorrektheit Methode. Anstatt Nazis und das Nazitum zu dämonisieren, verkleinert und verzotet Franzobel sie systematisch. Einen Wiedergänger Hitlers als bedauernswerte Kreatur gibt es in diesem Nazi-Pandämonium, einen notorisch erfolglosen Kommissar, der wie Heydrich aussieht, eine unter Schluckauf leidende Hysterikerin, die an Leni Riefenstahl erinnert und, als Hauptfigur, einen fetten, göringhaften Helden, Oswald Mephistopheles Wuthenau, geboren 1931 in Wien. Er ist ein schwergewichtiger und – wie der Name verrät – wutbrausender Mann, ein egomanischer Provokateur, der Hitler und Brecht verehrt, der in Österreich eine Napola besuchte und später eine Rente als Opfer des Faschismus bezieht, der in Argentinien mit alten und neuen Nazis verkehrt und ein Atomkraftwerk errichtet und der in der DDR mit der Bert-Brecht-Medaille ausgezeichnet wird. In seiner verfressenen Dreistigkeit empfindet er sich selbst voll Stolz als Verkörperung des Dritten Reiches. Die Orgie, der Ausdehnungswunsch, der Machtrausch gehören ebenso zu ihm wie das Mickrige, das Verklemmte, das Lächerliche. Sein Elend besteht in einem zu kleinen Arschloch, sodass er zeitlebens unter Verstopfung leidet. Ja mehr noch: Er teilt die Welt ein in Verstopfte und Verflüssigte. Koten nach Noten: Braune Gesinnung ist hier ganz wörtlich zu nehmen. Franzobels Analyse des Faschismus betreibt die schlichte Reduktion auf den Analcharakter.

Wuthenaus Biografie ist auf seltsame Weise mit der Zeitgeschichte verknüpft. Am Tag des Röhm-Putschs liefert seine Mutter den Dreijährigen bei einer Tante ab, um sich nie mehr bei ihm blicken zu lassen. Am 20. Juli 1944 hat er seinen „Plumpsacktag“, was bedeutet, dass er auf dem Klo der Napola zum ersten Mal onaniert und dabei seinem Fähnchenführer auf die polierten Schuhe kleckert. Solche Zoten-Anekdoten sind gelegentlich witzig, manchmal peinlich, mit Lust sexistisch, auf die Dauer aber bloß ermüdend. So herrlich einzelne Episoden sind, so ratlos lässt diese hemmungslose Sprachwucherung, dieses Walken und Durcharbeiten von Perversionen aller Art. Und warum erzählt Danny Milchman das alles? Als fantastischen Zeitvertreib während der Reise? Aus purer Lust am Erfinden?

Franzobel ist sprachgewaltig, aber er ist kein Erzähler. Statt Charakteren schafft er Kasperlefiguren, die aus ein paar Ticks zusammengeschustert sind. Statt einer Handlung, die wenigstens in Ansätzen plausibel wäre, ist der Fantasie alles erlaubt. Daraus ergibt sich ein merkwürdiges Phänomen. So saftstrotzend diese Prosa ist, so kraftlos ist sie auch. So potent die Sprache, so schlaff das Resultat. So dick der Roman, so dünn der Erkenntnisgewinn. Denn so ganz aus dem Bauch heraus lässt sich der Faschismus doch nicht begreifen. Warum 650 Seiten daraus wurden und nicht nur 200 oder auch 3.000, hat weniger mit inhaltlicher Notwendigkeit zu tun als mit der Kondition des Autors. Als Leser braucht man jedenfalls eine sehr gefestigte Verfassung, um bis zum Ende durchzuhalten.

Franzobel: „Das Fest der Steine oder Die Wunderkammer der Exzentrik“. Zsolnay Verlag, Wien 2005, 650 Seiten, 24,90 Euro