Der Zukunftsglaube in den Zeiten der D-Mark

Schriften zu Zeitschriften: Mit einem Doppelheft spürt „Ästhetik & Kommunikation“ den verblichenen Mythen der alten Bundesrepublik nach

Wäre es nicht mal wieder schön, eine optimistische Zukunftsvision für unsere Gesellschaft zu haben? Sich mit anderen netten Menschen auf die Reise in eine sozial gerechte, gewalt- und repressionsfreie, ökologische Welt zu begeben? Das Ganze bei nachhaltiger materieller Absicherung auch der eigenen Existenz?

Um sich das vorzustellen, muss man den Film vielleicht nur etwas zurücklaufen lassen. Denn in nicht allzu ferner Vergangenheit liegt ein Gemeinwesen, das offenbar eine bessere soziale und ökonomische Erfolgsgeschichte aufzuweisen hat als die Gegenwart: die „alte“ Bundesrepublik.

Die wirtschaftsliberalen Möchtegernenkel Ludwig Erhards haben das längst erkannt und vorgemacht, wie man das bedrohlich Neue als das lauschig Altbekannte verkauft. Sogar Angela Merkel hat ihren Marx gelesen und weiß daher, warum sich soziale Marktwirtschaft nur als Farce wiederholen lässt: weil Menschen zwar ihre eigene Geschichte machen – nicht aber aus freien Stücken. An der Schwelle zu etwas Neuem, so der berühmte Philosoph aus Trier, „beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen“.

Jetzt hat auch die linke Vierteljahreszeitschrift Ästhetik und Kommunikation ein Doppelheft zum Thema „Mythos Bundesrepublik“ herausgebracht. Denn zumindest in der Retrospektive birgt die kleine rheinische Republik anscheinend einen ganz originären Mythenschatz: Mythos D-Mark. Mythos Adenauer. Mythos Wirtschaftswunder. Mythos Brandt. Mythos 68. Mythos RAF.

Mythos Suhrkamp-Culture? Zumindest was Letztere betrifft, führt der Berliner Publizist Alexander Cammann in seinem Beitrag eine historische Spezialität der alten BRD vor: dass man überkommene Mythen der nationalen Hochkultur als reinen „Willen zur Bedeutung“ entlarven kann.

Cammann hat Martin Walsers von 1974 datierendes mundartliches Huldigungsgedicht an den Verleger Siegfried Unseld ausgegraben: „Wir sind Alemannen, Siegfried, uns fickt der Schuh. Du bist jetzt Verleger. Du fickst den Erfolg.“ So redete man damals bei Suhrkamp. Dich, lieber Martin, fickte später die Keule. Doch ist das noch mythenträchtig?

Dass Mythen in der Daseinsbewältigung der Menschen eine wichtige Rolle spielen, erklärt der Berliner Politologe Herfried Münkler: „Das Unheimliche wird vertraut und ansprechbar, die Gleichgültigkeit der Welt dem Menschen gegenüber wird wegerzählt, und die Kontingenz des Geschehens wird mit Sinnstrukturen und Bedeutsamkeiten überzogen.“ Ereignisse, die für den Einzelnen übermächtig erscheinen, werden in der mythischen Heldenerzählung also auf einen menschlichen Handlungshorizont zusammengeschrumpft – immer um den Preis einer dafür eingeschränkten Realitätswahrnehmung.

Münkler zufolge sichere der Mythos den politischen Führern in Krisenzeiten die Gefolgschaft der Regierten. Doch der deutschen Gegenwartspolitik scheinen die Mythen ausgegangen zu sein: Die Wiedervereinigung habe keinen „gemeinsamen Gründungsmythos“ hervorgebracht, und sogar im Westen sei die „integrative Kraft der Konsummythen“ infolge von Wirtschaftskrise und sozialer Spaltung „erodiert“.

Was kann es also helfen, in den alten Erzählungen zu stochern? Schließlich kam für fast alle der am Unternehmen Bundesrepublik Beteiligten die Rücknahme des unendlichen Prosperitätsversprechens wie ein Schock – sogar bei denen, die schon lange von den Grenzen des ökonomischen Wachstums gesprochen hatten. Gerade dort also, wo eine derartige Einsicht kreativen Elan hätte auslösen sollen, wurde es in der Krise immer stiller.

Zum Mythos verklärt daher der ä & k-Redakteur Albrecht von Lucke „das einzige originäre politische Projekt der alten Bundesrepublik“: Rot-Grün. Von Lucke beschreibt den rot-grünen Abgang als ein Fiasko, einen autoaggressiven „Amoklauf gegenüber dem eigenen Projekt“. Denn: „Seinem Ursprung nach sollte es den Horizont des Denkens von Politik in Legislaturperioden weit überschreiten und letztlich auf den ökologischen Erhalt des Planeten und die Bewahrung der Schöpfung zielen.“ Tröstlich, dass dabei wenigstens die guten alten Ideale keinen Schaden genommen haben: „Angesichts dramatischer Verteilungskämpfe um die globalen Ressourcen bleibt die Überwindung von Nationalismus und Materialismus das Gebot der Stunde.“

Aber wo wölkt in diesem Scheitern eigentlich der Mythos? Für den Berliner Politologen Stefan Schlak sind die „wahren mächtigen Mythen der Jetztzeit“ immer die, „deren Geschichte noch keiner zu schreiben wagt“. Bevor die Weltrettung weitergeht, bleibt also noch das Unaussprechliche zu verstehen: Welche unbarmherzige Dialektik ließ eigentlich die postmaterialistischen Ökopaxe von einst zur müden Partei der Besserverdienenden mutieren? War schon alles zu spät, als man begann, Solar- und Windkraft als expansive Jobmaschine und Wachstumsbranche für den Weltmarkt zu propagieren? JAN-HENDRIK WULF

Ästhetik & Kommunikation 129/130, 2005, 20 €