Pakistans Wirtschaft hat nicht gebebt

Das verheerende Erdbeben wird vor Ort kaum ökonomische Folgen haben: Denn Pakistans Norden hat sowieso fast keine Wirtschaft. Die Hochlandtäler sind das Armenhaus der Nation. Die hohen Ölpreise machen dem Land mehr zu schaffen

AUS DEHLIBERNARD IMHASLY

„Das Erdbeben hat nur geringen Einfluss auf Pakistans Wirtschaft.“ Dieses Urteil des pakistanischen Wirtschaftsfachmanns Sakeb Sherani mag zynisch erscheinen – hat doch die Katastrophe tausende Tote gefordert. Trotzdem trifft es wohl die Wahrheit. Denn das Erdbebengebiet in Kaschmir hat kaum „Wirtschaft“.

Das Erdbeben vom 8. Oktober vernichtete fast die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Region. Doch obwohl ganze Städte und Täler zerstört wurden, lässt sich nicht übersehen, dass die betroffene Bevölkerung „nur“ rund 3,5 Millionen ausmacht – in einer Volkswirtschaft mit über 150 Millionen Menschen. Das Gebiet ist das Armenhaus des Landes, in dem zwei Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben (also über weniger als 2 Dollar pro Kopf und Tag verfügen). Tourismus gibt es kaum in dieser politisch sensiblen Zone, die zwischen Pakistan und Indien umstritten ist.

Wenn Pakistans Wachstumsprognosen für 2005 dennoch um 2 Prozent heruntergeschraubt wurden, dann liegt dies weniger am Erdbeben als an internationalen Faktoren. Dazu gehört etwa der steigende Erdölpreis. Der wichtigste Grund für die zurückhaltenden Erwartungen ist allerdings, dass die Wirtschaft im letzten Jahr um sensationelle 8,4 Prozent wuchs – ein langjähriger Rekord, der sich nicht so leicht wiederholen lässt.

Das Handelsbilanzdefizit hat sich im ersten Quartal verdreifacht – darin spiegeln sich auch die steigenden Ölpreise. Diese hohen Importkosten konnten nicht ausgeglichen werden, obwohl die Ausfuhren ebenfalls um 20 Prozent zunahmen. Das Jahresdefizit dürfte daher die anvisierten 7 Milliarden Dollar überschreiten. Dennoch bleibt die Regierung optimistisch, weil die pakistanischen Arbeiter im Ausland bereits in den ersten drei Monaten 1 Milliarde Dollar nach Hause überwiesen haben. Allein diese Zuflüsse könnten das Defizit um 60 Prozent reduzieren. Diese Hoffnung äußert sich auch in den Kursen an der Karatschi-Börse: Seit September 2004 stiegen die Werte um 37 Prozent.

Bleibt die größte Sorge: Durch die steigenden Ölpreise dürfte die Inflationsrate in Kürze zweistellig sein. Der rasante Preisauftrieb trifft vor allem die Armen, denn sie müssen den größten Teil ihres Einkommens für Nahrung und Behausung aufwenden. Mehr als die Hälfte der pakistanischen Bevölkerung lebt immer noch von der Landwirtschaft. Wie dünn die Existenzsicherung für die Armen ist, zeigt ihr Beitrag zum Steueraufkommen: Die Bauern erwirtschaften nur 23 Prozent vom Bruttosozialprodukt – und ganze 1,2 Prozent von den Steuereinnahmen.

Die Inflation dürfte durch das Erdbeben vorerst noch weiter zunehmen: Denn die Lebensmittelpreise werden durch die Nahrungsengpässe ansteigen, ebenso wächst die Nachfrage nach Bauleistungen und -materialien. Internationale Hilfe könnte diese Knappheiten lindern und die Teuerung beschränken. Allerdings laufen die Spenden bisher erst außerordentlich zögernd an (siehe Kasten).

Wirtschaftsfachmann Sakeb Sherani glaubt dennoch, dass das Erdbeben langfristig der pakistanischen Ökonomie sogar nutzen kann: „Der Wiederaufbau wird sich positiv auf das Wachstum auswirken.“ Belege dafür gibt es in Europa: Nach der Elbeflut verzeichnete Sachsen sehr starke Zuwächse.