Hamburg schützt nicht alle Kinder

Eine ehemalige Jugendamts-Mitarbeiterin klagt an: Allgemeine Soziale Dienste (ASD) sind zu schlecht ausgestattet, um allen Familien in Not zu helfen. Morgen Expertenanhörung im Rathaus. CDU spricht von „Seifenblasen-Diskussion“

von Kaija Kutter

„Hamburg schützt seine Kinder“, versicherte Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) am 27. September und stellte ein Paket vor, mit dem der Senat Konsequenzen aus dem Hungertod der siebenjährigen Jessica zog. Dazu gehören – auf zwei Jahre befristet – zehn neue Stellen für die Jugendämter, Allgemeine Soziale Dienste (ASD) genannt. Doch dies, so erklärt nun die ehemalige ASD-Mitarbeiterin Elisabeth Tinger im taz-Gespräch, reiche „absolut nicht aus“.

Die Sozialarbeiterin ist eine der wenigen in Hamburg, die das laut zu sagen wagen. Sie hatte im März diesen Jahres nach 23 Jahren ihren Dienst beim ASD in Harburg-Zentrum gekündigt, „zu meinem eigenen Schutz“, wie sie sagt. Denn im vergangenen Jahrzehnt habe sich die Lage dort so zugespitzt, dass sie nicht mehr „fachgerecht und adäquat“ habe arbeiten können.

Ein Großteil der Meldungen an das Harburger Jugendamt kam von Eltern oder den Kindern selbst. Doch weil es zu viele Fälle für die 14 Mitarbeiter gewesen seien, seien „etwa 100 Fälle auf der Warteliste gelandet“.

„Wir haben dann in Krisensituationen eine Vorab-Klärung durchgeführt“, berichtet die 56-Jährige. Dazu gehöre der Check des Kühlschranks, um zu sehen, ob es Essensvorräte für die Kinder gab. Wenn ja, kamen diese Fälle oft auf die Rückstandsliste, obwohl, so Tinger, „deutlich war, dass Hilfe notwendig ist“.

Die Gefahr, dass bei diesem Verfahren eine falsche Entscheidung getroffen werde, war für die Sozialarbeiterin schließlich nicht mehr erträglich. Tinger: „Die Verantwortung, die Kinder zu schützen, wurde zu groß“. Denn wenn sie einen Fehler begehe und ein Kind zu Schaden komme, sei sie als ASD-Mitarbeiterin juristisch haftbar.

Ein Zufall sei es zum Beispiel gewesen, dass sie den Anruf einer Mutter, die nur über Schimmel in der Wohnung klagte, ernst nahm und dort einen Hausbesuch durchführte. Es zeigte sich, dass die Mutter überfordert war und ein Säugling mit einem Fläschchen gegorener Milch in einem nassen Bettchen lag.

Aus Belastungsgründen nicht bearbeiten konnte sie aber den Hilferuf einer Mutter, die völlig erschöpft und ihrer 14-jährigen pubertierenden Tochter, die seit längerem nicht mehr zur Schule ging, nicht gewachsen war. Hier verhungerte zwar kein Kleinkind. Doch auch dies ist für Tinger ein Fall, bei dem das Mädchen „bei rechtzeitiger Hilfe noch eine Perspektive gehabt hätte“. Dort trotz aller Unzulänglichkeiten immer wieder „cool zu bleiben“ sei ihr nicht mehr möglich gewesen: „Ich habe das Gefühl, dass die obere Führungsebene die Belastung nicht erkennt.“

Dabei würde Tinger gerne wieder arbeiten und erinnert auch viele Erfolge. Sei es der „Drogenpapa“, der von seiner Sucht loskam und eine Lehrstelle fand, oder das einst suzidgefährdete Mädchen, das heute Architektur studiert. Nicht vergessen hat sie auch die minderbegabte Mutter, die stolz darauf ist, dass sie es mit Tingers Hilfe schaffte, ihren Kindern wieder ein aufgeräumtes Heim zu bieten. Kinder, die anfangs nicht einmal ein Bett zum Schlafen hatten.

Um die Kinder zu schützen und ihnen für ihr weiteres Leben eine Chance zu geben, müsse sie mit den Eltern arbeiten und eine Beziehung aufbauen, sagt Tinger. Und das dauere, wenn alles reibungslos ablaufe, rund zwei Jahre. Kinder aus den Familien herauszunehmen sei nur im Notfall richtig, weil die Kinder dann ihr Leben lang ein „emotionales Loch“ behielten. So wirkte Tinger sogar im Fall einer Mutter, die von ihrem Mann geschlagen wurde, nach Gesprächen mit den Kindern darauf hin, dass diese beim Vater verblieben.

Tinger würde wieder beim ASD-Harburg-Zentrum arbeiten. Doch dafür bräuchte allein dieses Amt fünf zusätzliche Stellen. Zum Vergleich: Die zehn befristeten Stellen des Senats verteilen sich landesweit auf 17 ASD-Ämter mit 265 Stellen, von denen ohnehin 20 vakant sind.

Tinger wird morgen auf Einladung der GAL als Expertin bei einer Anhörung im Jugendausschuss über die Arbeit der ASDs sprechen. Da auf die Ämter nach Jessica Tod zusätzliche Aufgaben zukommen, fordert die GAL-Abgeordnete Christiane Blömeke, die „Fachleute an der Basis“ zu fragen, wie viel Personal sie wirklich benötigen. Denn wo Kinder gefährdet sein könnten, dürfe es keine Wartelisten geben.