: Die Antiromantikerin
Angela Merkel, designierte Kanzlerin, hat einen neuen Feind ausgemacht: die „Sozialromantiker“. Ein semantischer Tiefschlag, mit dem sie sich gegen das Modell der Sozialintegration positioniert
VON CHRISTIAN SEMLER
Mit dem Stichwort der „Sozialromantik“, zu der es in der CDU kein Zurück geben dürfe, hat Angela Merkel jetzt einen semantischen Tiefschlag gegen ihre parteiinternen Kritiker zu landen versucht. Wer ihren Wahlkampf nachträglich als kalt und herzlos diffamiere, zeige sich unfähig, den düsteren deutschen Realitäten ins Auge zu blicken. Der Sozialromantiker wende den Blick ab von den Fakten, wolle das goldene Zeitalter der sozialen Marktwirtschaft wieder heraufbeschwören, das doch bekanntlich nicht mehr finanzierbar sei. Solchen Flausen gegenüber gelte es, tapfer den Weg der sozialen Härten weiterzugehen, der allein zur Neuen Sozialen Marktwirtschaft führen werde, wo Solidarität und individuelle Verantwortung glücklich vereint seien.
Das Soziale mit romantischen Augen zu sehen meint also im Merkel’schen Sprachgebrauch, einer zwar edlen, aber politisch schädlichen Haltung zu erliegen. Damit wird die Kontroverse um den von Merkel seit dem Leipziger Parteitag verfolgten neoliberalen Kurs auf eine Ebene verschoben, wo Argumente nichts mehr fruchten. Denn der Sozialromantiker analysiert nach Merkel nicht die Gegenwart, sondern vergoldet die Vergangenheit, um diese dann als Maßstab des Handelns zu nehmen. Eine Art von psychischem Defekt, erträglich bei Dichtern und Denkern. Bei Politikern hilft allerdings nur die kalte Dusche, von Angela Merkel warmherzig verabreicht.
Sozialromantisch ist nach der Kanzleraspirantin etwa die Forderung der CDU-Sozialausschüsse, die Bezugsdauer des ALG I an die Zahl der Beitragsjahre zu koppeln, vieljährigen Einzahlern einen früheren Eintritt in die Rente zu ermöglichen oder die Änderung der Rentenformel, um gering verdienende Rentner etwas besser zu stellen. Solche Reparaturmaßnahmen am von der sozialliberalen Koalition verschuldeten Ist-Stand sollen einem romantischen, rückwärts gewandten Geist entspringen und keinem praktischen Kalkül?
In Wirklichkeit wendet sich Merkel mit dem Vorwurf der sozialen Romantik gegen die Vorstellung, dass die Art von Klassenpartnerschaft, die in der Blütezeit der sozialen Marktwirtschaft florierte, eine harte Grundlage in den sozialen Rechten und Errungenschaften hatte, die den abhängig Beschäftigten – oft genug erst nach langwierigen Kämpfen – zugestanden wurde. Ihr Angriff gilt der bundesrepublikanischen Sozialintegration.
Geschichtlich waren die Sozialromantiker des 19. Jahrhunderts Konservative, die die Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft und den sie begleitenden Wertezerfall beklagten. Sie wollten die angeblich organischen Formen des Zusammenlebens früherer Zeiten wiederherstellen, schwärmten von der Familie und den Ständen, stellten das gute „Volk“ gegen die zersetzte „Gesellschaft“. Oft kamen sie zu bemerkenswerten Einsichten, aber das Volk verlief sich lachend, wenn es auf dem nackten Hintern dieser Leute, wie Marx und Engels einmal geschrieben haben, das aristokratische Wappen bemerkte. Im Gegensatz hierzu waren die Konstrukteure der „sozialen Marktwirtschaft“ kühle Pragmatiker, die wussten, dass zum sozialen Frieden nicht nur Nehmen, sondern auch Geben gehört.
Wie aber will Angela Merkel, die Antiromantikerin, soziale Integration bewerkstelligen? Ihr bisher einziger Vorschlag besteht in einer ausgesprochen dünnen Suppe. Auf ideeller Ebene ist Vaterlandsliebe und auf der materiellen ein – freilich gänzlich einseitiger – Verzicht zugunsten des „Gemeinwohls“ angesagt. Eben der „Dienst“. Bis sich schließlich mit dem Wachstum und, ihm folgend, den neuen Arbeitsplätzen der irdische Lohn einstellen wird. Das soll realistisch sein?