: Eine Reisende aus Zwang
JUGOSLAWIEN Die kroatische Autorin Marica Bodrozic findet in „Kirschholz und alte Gefühle“ ungewöhnliche Bilder für die Furcht vor Erinnerungen
VON CAROLA EBELING
Eine weibliche Stimme, eine Perspektive, ein Bewusstseinsstrom, kein einziger Dialog, der in direkter Rede wiedergegeben ist, dazu der Verzicht auf einen klassischen Plot – gewagt, einen Roman so anzugehen: Marica Bodrozic macht es genau so in „Kirschholz und alte Gefühle“. Und das nicht zum ersten Mal.
Das neue Buch der 1973 in Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geborenen Schriftstellerin, die im Alter von zehn Jahren nach Deutschland kam und sich auch als Lyrikerin bereits einen Namen gemacht hat, bildet den zweiten Teil einer Trilogie: Vor zwei Jahren erschien der in gleicher Art angelegte Roman „Das Gedächtnis der Libellen“. Arjeta, die Ich-Erzählerin des aktuellen Bandes, tauchte auch schon im vorigen auf, sie ist die Freundin von Nadeshda, der dortigen Hauptfigur.
Bodrozic siedelt die Erzählgegenwart im Berlin von heute an. Die fast vierzigjährige Arjeta bezieht zum wiederholten Male eine neue Wohnung. Der Roman erzählt die ersten sieben Tage in den noch fast leeren Räumen – in der Küche steht schon der titelgebende alte Kirschholztisch der Großmutter, der konkreter wie symbolischer Bezugspunkt aufsteigender Erinnerungen ist. Diese werden zudem durch Plastiktüten voller Polaroids angeregt, die Arjetas Mutter bei der Tochter zurückgelassen hat und die ihr beim Auspacken der Kartons wieder in die Hände fallen.
Arjeta ist eine Reisende, der das Unterwegssein zum Zwang wurde, als im ehemaligen Jugoslawien der Krieg ausbrach: Ihre Heimatstadt Sarajevo nennt sie nur „die belagerte Stadt“. In Paris zu studieren, war ihr freier Entschluss, ein Exil sollte die Stadt nie sein. Bodrozic lässt Arjeta nun eine innere Reise antreten. Erinnerungen, das Erzählen vergangener Geschehnisse und unendlich viele Beschreibungen, Bilder innerer Vorgänge wechseln sich ab.
Die Intensität der Selbsterkundung Arjetas ist erstaunlich, und beeindruckend sind die Wendungen, Bilder, Wortverknüpfungen, die die Autorin dafür findet. Die Bedeutungen erschließen sich den Lesenden nicht immer ganz – aber das ist stimmig, denn das ahnende Annähern ist auch Arjetas Methode.
„Ich konnte meinen Weg nur mit geschlossenen Augen finden, mit dem dunklen Winter in mir, der meine Landkarte so lange belagerte, bis ich bereit war, auf das zu verzichten, was Menschen gemeinhin ihre Zukunft nennen. Es hilft mir bis heute kein gestempelter Pass dabei, keine einmal gelernte Grammatik“, heißt es fast zu Beginn. Klar, dass es um die Erfahrung des Exils geht, des erzwungenen Weggehens und Woanders-ankommen-Müssens. Was es aber mit dem „dunklen Winter“ auf sich haben könnte, erschließt sich genauer erst später.
Orte, an die die Erinnerungen führen, sind Istrien, die Kindheitssommer dort; Sarajevo, als der Krieg beginnt, wo die jüngeren Brüder sterben; Paris, von wo aus sie den Krieg aus der Ferne wahrnimmt, das schreckliche Getrenntsein von den Eltern. Aber auch die Freundschaften zu Nadeshda und Naomi und die schwierige Liebe zu Arik prägen die Pariser Zeit.
Bodrozic gelingen dichte und berührende Momentaufnahmen eines Krieges, der den Menschen zunächst unglaublich, unwirklich erscheint. Arjetas Brüder sterben durch eine Mine: „Ich sah zuerst ihre Füße. Zuallererst ihre Füße. Die Füße meiner Brüder waren schön. Ihre Zehen. Was für schöne Füße sie haben, dachte ich. So flaumweich und zart wie zarte Federn. Ich ging zu ihnen. Ich küsste die Zehen. Was für schöne Zehen sie haben, dachte ich und dachte irgendwann nur das. Ich konnte nichts anderes mehr denken (…)“
Die Spuren jener gewaltvollen Erfahrungen sind unauslöschlich, Arjeta erlebt es an ihrer Mutter. Und an sich selbst. An ihren Ängsten, ihrer Furcht vor den Erinnerungen – die sie jetzt aber zulässt. Sich dabei immerzu befragend und die Vorgänge des Erinnerns selbst hinterfragend.
Dass das mit der Zeit nicht wie eine ermüdende Endlosschleife wirkt, liegt an der erzählerischen und sprachlichen Begabung Bodrozic’: am Wechsel von erinnerten Geschehnissen und Reflexionen darüber sowie an den ungewöhnlichen Bildern, die sie für die inneren Vorgänge findet.
Dazu kommt eine präzise Beobachtung von Menschen. Viele schöne, kluge Sätze kann man finden: über die Vergänglichkeit, Träume, Erinnern, Wahrheit, Sprache, Abschiede. Von den Erinnerungen nicht mehr aus der Gegenwart heraus- und in die Vergangenheit hineingedrängt zu werden, das ist der wichtigste Schritt, den Arjeta am Ende des Romans gehen kann: „(…) ich kann wieder das Meer, die Wellen, den Wind hören, ich kann alles hören von früher, ohne dass es ein Gestern wird, ohne es selbst zu werden“.
■ Marica Bodrozic: „Kirschholz und alte Gefühle“. Luchterhand, München 2012. 224 Seiten, 19,99 Euro