Lose Enden klangvoll verknoten

FORMALISMUS UND FREISPIEL Das Festival „Sololala“ in den Sophiensaelen bringt die Konzept-Musik Alvin Luciers und Saxofon-Improvisationen zusammen

Auf der Bühne sind zwei Fäden über Kreuz gespannt. Weitere Fadenstücke hängen schlaff herab. Dank Mikrofonen hört man jede Berührung der Bänder, Styroporteile mit Kontaktmikrofonen tun ein Übriges. Die hinzugetretene Frau will mit den Fäden scheinbar bloß spielen, sie über die fest gespannten Schnüre ziehen und diverse Quietsch- und Knatschgeräusche erproben. Doch nach und nach werden die losen Enden klangvoll verknotet, bis ein rudimentäres Spinnennetz zu erkennen ist. Zum Schluss noch die überflüssigen Stücke abschneiden und fertig. „Hymn“ nennt sich das Werk des amerikanischen Komponisten Alvin Lucier, mit dem am Mittwoch das Festival „Sololala“ eröffnet wurde.

Die Idee des Festivals ist von einer solchen formalen Strenge, dass die sechs Konzerttage selbst wie Konzeptkunst anmuten: Jeden Abend erklingt eine Komposition von Lucier für einen Spieler, anschließend darf ein Saxofonist frei improvisieren. Den Auftakt machte der Brite Evan Parker, einer der größten europäischen Jazzmusiker überhaupt. Es war ein krasser Gegensatz zum Spinnennetzkonzert.

Was auf den ersten Blick seltsam zusammenhangslos erscheint, hat Sinn und Methode. Lucier ist Konzeptualist reinsten Wassers, seine formal übersichtlichen Versuchsanordnungen zu isolierten Klangphänomenen verlangen Ausführende, nicht Interpreten. So beschränkt sich das Werk „Hymn“ auf die Geräusche, die beim Spinnen des Netzes entstehen. Mit „Ausdruck“ kann man das schwerlich spielen. Die Performerin Fernandah Fara, eine in Berlin lebende Brasilianerin, ging der Aufgabe mit stoischer Ruhe nach. Wenn ihr ein Faden aus den Fingern schnellte, fing sie halt von vorn an. Leider verhinderte die Übersichtlichkeit des Prozesses mit seiner fast preußischen Pedanterie, dass sich bei dem Werk nennenswerte Spannung aufbaute. Missgeschicke oder Störgeräusche aus dem Publikum waren eine willkommene Ablenkung. Möglicherweise war dies sogar beabsichtigt: Lucier ließ sich unter anderem vom Zufallsbuddhisten John Cage inspirieren.

Den gewünschten Kontrast zur rigiden Musik Luciers bildet die folgende Improvisation. Hier ist der Interpret alles, seine Stimme trägt die Musik. Schier überwältigend der Auftritt Evan Parkers an Sopran- und Tenorsaxofon. Besonders beim Sopransaxofonspiel ist Parker unerreicht im atemlosen Aneinanderreihen von Hochgeschwindigkeitsfiguren, in denen sich mehrere Stimmen zugleich zu überlagern scheinen. Mit seiner Überblasetechnik bringt er die schrillsten Klangfarben zum Leuchten, dank Zirkularatmung kann er scheinbar endlose Tonspiralen spielen. Statt jedoch seine Virtuosität zur Schau zu stellen, erzeugt Parker mit vorbildlicher Disziplin fast entrückte Trance-Zustände. Ein bisschen Entspannung mit lyrischen Momenten gestattet er sich und dem Publikum am Tenorsaxofon.

Parker ist 1944 geboren und damit einer der ältesten Musiker, die sich bei „Sololala“ die Ehre geben. Einer weit jüngeren Improvisationsgeneration entstammt der am Samstag spielende 30-jährige Niederländer Thomas Ankersmit, ein Experimentalmusiker, der schon mit Lucier persönlich zusammenarbeitete. Am selben Tag wird auch Luciers Klassiker „I am sitting in a room“ aufgeführt, ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, in dem die Performerin einen gesprochenen Text aufnimmt, die Aufnahme abspielt und so lange wieder aufzeichnet, bis die Resonanzen des Raums ihre Sprache völlig überlagern. Ob die Gegenüberstellung von Formalismus und Freispiel immer glücken wird, bleibt abzuwarten. Bei der Eröffnung ist sie gelungen: Nach Luciers gründlicher Wahrnehmungsschule war der Kopf frei für Parker. TIM CASPAR BOEHME

„Sololala“, bis Sonntag, Sophiensaele, jeweils um 20 Uhr