: Literaturgenuss ist ein bedrohtes Privileg
Jan Philipp Reemtsma stemmte sich in der Georg-Büchner-Buchhandlung gegen das „unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit“
Wie früher! Eine intensive Stunde lang konnte man Dienstagabend in der Georg-Büchner-Buchhandlung eine Reminiszenz ans einstige Literaturwissenschaftsstudium durchleben. Der Raum ist – bei selbstbewussten 12 Euro Eintritt! – proppenvoll, vorne in der ersten Reihe sitzt der unvermeidliche Durs Grünbein. Man selbst verkrümelt sich lieber nach hinten, neben die Frauenliteratur (Toptitel im Regal: „Frauen, die lesen, sind gefährlich. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich“).
Dann tritt Jan Philipp Reemtsma als promovierter Literaturwissenschaftler auf, um aus seinem Sammelband „Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit“ den Aufsatz „Was wird aus Hansens Garten?“ vorzutragen – eine Brandrede gegen den Kulturverfall in Zeiten der Mediendemokratie, anhand einer Interpretation des „Vogelsang“-Gedichts Christoph Martin Wielands von 1778.
„Mein Vortrag wird so eine Dreiviertelstunde dauern, wem das zu lang ist, dem gebe ich jetzt die Gelegenheit, zu gehen.“ Reemtsma ist die Sorte Literaturprofessor, wie man sich ihn immer gewünscht hat: bescheiden im Auftreten, wertkonservativ in der Sache, autoritär, aber fair, hochbelesen und mit dem nötigen Schuss Eitelkeit und Normativität – „hier hat Enzensberger Recht“ – in der Benotung.
Mit spürbarem Genuss an der Sprache kostet der versierte Arno-Schmidt-Rezitator Reemtsma besonders gelungene Formulierungen aus wie seltene Pretiosen. Und so geht es ihm bei seiner germanistisch hochgetunten Mischung aus Gesellschaftskritik und Gedichtinterpretation präzise um die Verteidigung ebendieses Genusses, den er als bedrohtes Privileg zu bezeichnen weiß: „Wer etwas, das er hat, nicht zu genießen weiß, verdient nicht, es zu haben.“ Insofern gilt es, den Konjunktiv der Kunst zu verteidigen, um noch „ein paar Orte zu haben, an denen Unmittelbarkeit und Spontaneität nicht ihre narzisstischen und masturbatorischen Selbstfeiern des totalen Indikativs (der Wirklichkeit) abhalten“!
Nachdem er mit strengen Minimalforderungen an die Kunst – Weniger Schwänze auf dem Theater! – bei seinem ohnehin kulturkritisch-konservativen Auditorium noch ein paar offene Türen eingerannt hat, endet der Abend mit der schönen Anekdote, wie der junge Reemtsma in der elterlichen Bibliothek auf Camus' Fremden stieß. Und damit auf eine ganze Welt von Erfahrungen, die ihm im eigenen Leben niemals möglich gewesen wären. Wie alt er denn da gewesen sei, will die schüchterne Fragerin dann noch wissen. „Zwölf“, antwortet Reemtsma.
ANDREAS MERKEL