: Die Kompetenz der Betroffenen
Schüchternheit kennt jeder. Wenn jedoch gar nichts mehr geht im Sozialleben, führt Schüchternheit in die Isolation und wird zum Problem. Deshalb hat der Braunschweiger Julian Kurzidim einen Verein für Schüchterne gegründet – als Emanzipationsbewegung, die im Norden immer weitere Kreise zieht
Interview: Kerstin Fritzsche
Schüchternheit ist noch der netteste Ausdruck für Kontaktangst, findet Julian Kurzidim, Gründer und erster Vorsitzender des Schüchternen-Vereins „Intakt“. Gemeinsam mit dem zweiten Vorsitzenden Uwe Ellhoff möchte er das Problem an die Öffentlichkeit bringen – und traf die taz zum Gespräch in Braunschweig.
taz: Warum denn ein Verein für Schüchterne?
Julian Kurzidim: Vorher hatte Uwe eine Gruppe in Peine, ich meine hier in Braunschweig, dann habe ich noch eine gegründet in Wolfsburg, mit dem Ziel, meinen Gruppengedanken zu exportieren in andere Städte. Und Bedarf ist eigentlich in jeder Stadt, nur sind nicht immer die Leute da, die sich trauen.
Uwe Ellhoff: Es ist natürlich schon mehr als Schüchternheit. Also nicht so wie bei kleinen Mädchen, die irgendwie schüchtern sind. Aber es ist auch ein Problem, das man selbst ändern kann. Der Verein dient dazu, erst mal öffentlich zu machen, dass das ein Problem ist, über Braunschweig hinaus. Ein Bewusstsein zu schaffen dafür und dann Leuten Mut zu machen, dazu zu stehen.
Was leistet denn so eine Gruppe? Sie grenzen sich auf ihrer Homepage ab von der Therapie und betonen zusätzlich, dass die Gruppe eine Therapie nicht ersetzen kann.
Kurzidim: Ja, die Abgrenzung ist uns wichtig. Beides findet im Gespräch statt. Therapie und Gruppe sollten sich aber gegenseitig ergänzen. Wenn ich in der Therapie etwas anspreche, stoße ich auf mehr Verständnis als in der Gruppe, aber in der Gruppe steckt Betroffenenkompetenz dahinter, da gibt es Ratschläge und die sind überzeugender als die von einer Therapeutin, die sich das alles nur theoretisch erarbeitet hat.
Ellhoff: Die Gruppe ist das beste Lern- und Praxisfeld. In der Therapie ist das eine Eins-zu-Eins-Situation, da wird einem gesagt: Gehen Sie doch in den Sportverein. Ja, schönen Dank auch, das ist ja genau mein Problem, dass ich nicht in den Sportverein gehe. In der Gruppe kann man sich besser austauschen. Wenn da einer sagt „Sportverein ist super“, dann probiert man das eher aus, ist zusammen aktiv, um zu sehen, wie die Umwelt darauf reagiert. Es gibt dieses wöchentliche Gesprächsangebot in der Gruppe, aber darüber hinaus kann man sich verabreden, etwas unternehmen, sich ausprobieren. Die Gruppe ist wie das soziale Leben, auch mit Problemen und Konflikten, denen man sich stellen muss.
Wie merkt man denn, dass man mehr als schüchtern ist?
Ellhoff: Jeder erlebt das anders. Aber die Symptome sind vorher schon da. Also ich etwa lege Ausweichtendenzen an den Tag, ziehe mich zurück, setze mich ungern Extremsituationen aus. Es fällt uns schwer, unsere Qualitäten ins rechte Licht zu rücken. Meistens stellen wir unser Licht unter den Scheffel, weil wir in der Situation mehr Schwierigkeiten mit uns selber haben und dann nicht dazu kommen, zu zeigen, was wir wirklich können.
Kurzidim: Sich zu öffnen ist das Schwerste. Probleme gab’s schon im Kindergarten. Für die anderen ist man dann der komische Einzelgänger. Am schwierigsten ist es am Arbeitsplatz, bzw. überhaupt einen zu bekommen, weil der Erwartungsdruck so hoch ist. Arbeitgeber, habe ich die Erfahrung gemacht, können um so mehr von mir kriegen, je weniger sie erwarten.
Ellhoff: Also das ist immer das Problem, sich positiv darzustellen. Das fällt unheimlich schwer. Oder vielleicht ist die Außenwahrnehmung anderer Leute eine ganz andere als unsere eigene. Das blockiert uns auch. Das ist ja ein Teufelskreis. Leute, die so sind wie wir, wollen ja raus, wollen Leute treffen. Aber weil das schwieriger ist, versinken sie statt dessen immer mehr in Isolation.
Irgendwann war für Sie der Punkt erreicht, wo Sie nach draußen gegangen sind und Gleichgesinnte gesucht haben. Ein schwerer Schritt?
Kurzidim: Ja, sehr. Aber da steckt eine ziemlich große Motivation dahinter, etwas für sich und andere zu tun.
Ellhoff: Man leidet ja, wenn man allein zu Hause sitzt. Man möchte ja schon Freunde haben, ausgehen, möchte im Berufsleben integriert sein, eine Freundin haben … Das sind alles Aspekte von Lebensqualität. Irgendwann war der Druck bei uns so hoch, dass wir etwas ändern mussten.
Kurzidim: Bei mir war es während des Studiums weniger der Leidensdruck als die Vorfreude auf Leute, die mich endlich verstehen. Ich habe schon Referate gehalten und war mit 100 Leuten in einem Seminar. Aber freiwillig hab’ ich keine Kontakte aufgenommen. Jetzt vor kurzem habe ich mit Freunden das erste Mal seit 22 Jahren wieder meinen Geburtstag gefeiert.
Sie sind beide Sozialarbeiter. Das ist ja ein Beruf, wo man auch recht kommunikativ sein muss.
Kurzidim: Das, was der Verein macht, ist Sozialarbeit. Und Schüchterne haben Qualitäten, die man gut in der Sozialarbeit anwenden kann. Sie können gut zuhören, sind sensibel, nehmen Rücksicht, sind mitfühlend, rennen nicht jedem Trend hinterher, weil sie niemandem imponieren müssen oder können. Für mich war das Wichtigste, auch in der Entscheidung für das Studium, wie Menschen miteinander umgehen.
Ellhoff: Es geht auch darum, sich weiterzuentwickeln. Wir wollen ja nicht ewig schüchtern sein. Das gilt auch für andere: Es gibt sicherlich eine hohe Dunkelziffer. Wenn die Leute sich animiert fühlen durch uns, aus ihren Löchern herauszukriechen, dann ist schon ein Ziel erreicht.
Kurzidim: Das ist wie eine Emanzipationsbewegung. Wir haben verschiedene Begriffe, die wir da anbieten können. Es gibt neben Schüchternheit ja auch noch Sozialphobie, Kontaktangst, soziale Isolation, soziale Ängste, die sagen im Grunde alle das Gleiche aus. Leute, die zu unseren Gruppen kommen, können sich dann damit befassen und quasi das aussuchen, was für sie am besten passt. Denn ‚Störungsbild‘ und ‚Psychose‘ klingen nicht so gut. Wir können das aber positivieren, die Begriffe, und so den Umgang damit.
Was nervt Sie an Ihrer Umwelt am meisten?
Kurzidim: Mich stört, wenn jemand fragt, wie ich denn Leute anspreche. Weil das das Erste ist, was den Leuten zum Thema einfällt.
Ellhoff: Ich finde es schon hart, wenn jemand, der nichts kann, aber die große Klappe hat, Erfolg hat und an einem vorbeizieht. Aber sich deswegen immer gleich zu outen mit seinem Problem halte ich auch nicht für richtig.
Benennen Sie bei Vorstellungsgesprächen ihr Problem?
Ellhoff: Nein. Ich würde einfach vorher sagen, dass ich jetzt ein bisschen aufgeregt bin.
Kurzidim: Ich deute das positiv um und schreibe in meine Bewerbungen, dass ich eben diesen Verein aufgemacht habe und dessen Vorsitzender bin. Beim Vorstellungsgespräch würde ich darauf aufmerksam machen, dass mir mehr Zeit gelassen werden muss, meine Antworten zu formulieren. Aber meine Hoffnung ist ja, dass ich den Verein zum Beruf machen kann, als Geschäftsführer. Die anderen nennen mich schon „Bundesschüchternenbeauftragter“.