: Die Brücke der Herzen
Amt Neuhaus liegt östlich der Elbe und wurde 1949 der DDR zugeschlagen. Heute gehört es wieder zu Lüneburg, über eine Brücke wird nun abgestimmt. „Wir sind abgeschnitten“, sagen Leute im Ort
AUS AMT NEUHAUS THOMAS GERLACH
„Die Amerikaner sind hier geritten wie die Cowboys.“ Wilhelm Kruse lässt den Arm kreisen, als würde er ein Lasso werfen. „Dann kamen die Engländer, die waren zivilisiert. Und danach die Russen mit ihren Panjewagen.“ Die Russen blieben. Es geht auf sechs, der Grog dampft in den Gläsern. Drei Männer spitzen die Ohren, als wären sie Kruses Enkel, dabei sind sie kaum jünger als der stämmige Bauer, der 1935 in Amt Neuhaus geboren wurde. Doch die drei Herren, die mit Kruse im Hotel Hannover in Neuhaus zusammenhocken, waren nicht dabei, als 1945 das Unglück über das Amt hereinbrach.
Obwohl dieser Zipfel östlich der Elbe seit 1698 zu Lüneburg gehörte und damit nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der britischen Zone wurde, traten die Briten 230 Quadratkilometer ostelbisches Lüneburg an die Sowjets ab. Wie sollten sie ein paar Dörfer verwalten, wenn es keine Brücke gab? 1949 wurde das Amt Teil der DDR. Die Elbe war fortan Staatsgrenze, der östliche Uferstreifen Sperrgebiet. Viele, die in Neuhaus lebten, sahen die Elbe für Jahrzehnte nicht wieder. Zwischen Darchau und Neu Darchau, zwischen Bleckede und Neu Bleckede spannte sich der Eiserne Vorhang, und als politisch unzuverlässig geltende Bauern wurden in der „Aktion Ungeziefer“ deportiert.
Seit 1927 in Planung
Wilhelm Kruse gräbt immer neue Details aus. Frühmorgens um fünf seien Polizei und Staatssicherheit gekommen. Die drei anderen Herren schütteln den Kopf. Der Bauunternehmer Karl-Heinz Hoppe, der Stadtdirektor a. D. Lutz Röding und der Brigadegeneral a. D. Jörg Sohst hängen an Kruses Lippen. Dieses Unrecht hat sich hier an der Elbe im Landkreis Lüneburg ereignet, der geteilt war wie das ganze Deutschland. Und das alles, weil die Brücke fehlte. „Dabei sollte sie schon 1927 gebaut werden“, poltert Kruse. Heute fehlt sie noch immer.
Deswegen haben die Pensionäre den Förderkreis Elbbrücke gegründet, Unterschriften gesammelt, an Ständen geworben. Denn jetzt sollen die Bürger entscheiden. Gleichzeitig mit der Landtagswahl findet eine Befragung statt: Soll die Brücke gebaut werden? Ja, nein oder nur, falls die Kosten für den Kreis 10 Millionen Euro nicht übersteigen?
Schäbig sei das alles, finden die vier, denn die Brücke war schon komplett finanziert und geplant. Doch hat das Oberverwaltungsgericht den Bau wegen eines Planungsfehlers 2007 gekippt. 2008 meldeten die Agenturen: „Elbbrücke kommt“. Doch mit jeder Meldung stiegen die Kosten: höhere Stahlpreise, Umweltschutz, Lärmschutz. Was mit 23 Millionen Euro veranschlagt war, könnte nun 45 Millionen kosten. Dreiviertel tragen Bund und Land, den Rest der Landkreis, und der fragt angesichts von mindestens 10 Millionen Euro nun seine Bürger.
„Was die Leute hier mitgemacht haben, und dann streiten wir uns um Geld!“, erregt sich Hoppe. Am 30. Juni 1993 kehrte Amt Neuhaus heim in den Landkreis Lüneburg. Ehemalige DDR-Bürger wurden Westdeutsche. Hannover und Lüneburg pumpten Millionen Euro hinein, für Deiche, Schulen, Feuerwehren, für Umweltschutz, Tourismus und Gewerbe, auch für zwei Fähren. Es war ein Aufschwung Ost im Kleinen, nur eine Brücke wurde nie gefeiert. Dabei haben sie seit 1989 alle niedersächsischen Ministerpräsidenten und Lüneburger Landräte versprochen.
Die Brücke ist ein Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung, zitiert Karl-Heinz Hoppe aus seinen Papieren. Landwirtschaft, Gewerbe, Tourismus, Kirchen – alle würden profitieren, wenn die Ufer vereint wären. Hoppe hat die Fährkosten berechnet, hat den Spritverbrauch und den CO2-Ausstoß errechnet, wenn die Anrainer bei Hoch- oder Niedrigwasser den Umweg über die Brücken in Lauenburg oder Dömitz nehmen. Hoppes Bilanz – die Brücke koste den Staat 3,15 Millionen Euro im Jahr, die fehlende Brücke die Anwohner über 5 Millionen.
Doch abgesehen von den Zahlen gibt es noch etwas anderes, was ihnen auf der Seele brennt. „Erst durch die feste Elbquerung kann die deutsche Einheit“ abgeschlossen werden, liest Hoppe vor. Fast wird es ein wenig feierlich, doch dann wandern die Blicke immer öfter zur Uhr. Es ist nach acht. „Tanja“ ruft. Die Fähre mit dem anmutigen Namen setzt um neun zum letzten Mal über. Es wird hektisch. Alle vier leben am Westufer. Kruse ist 1958 über Westberlin geflohen.
Abwanderung droht
Im Hotel Hannover ist wenig Kundschaft. Dagmar Burmester stammt aus Hamburg. 1992 haben sie und ihr Mann die Gaststätte übernommen. Ihr Mann wurde hier geboren und ist 1962 über die zugefrorene Elbe geflüchtet. Auf der Treppe halten Zeitungsartikel die Erinnerung wach. Sie erzählen von Grenzöffnung und der Rückkehr nach Lüneburg. Auf einem Foto ist Karl-Heinz Hoppe zu sehen, selbst auf dem vergilbten Papier ist sein hoffnungsfroher Blick zu erkennen, Feldstecher, zwei DDR-Grenzer an seiner Seite. CDU-Mann Karl-Heinz Hoppe war 27 Jahre Bürgermeister von Bleckede, er hat im November 1989 die erste Überfahrt organisiert. Wunder wurden wahr. Sollte da der Streit über eine Brücke die Einheit verhindern?
Das Rathaus von Neuhaus ist ein Fachwerkbau. Dort laufen die Planungen für die Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag der Heimkehr nach Lüneburg an, und Bürgermeisterin Grit Richter, 50, müsste jetzt diplomatisch sein. Im Amtszimmer sagt sie knapp: „Wir haben keine Anbindung. Wir sind abgeschnitten.“ Dann dreht sie sich weg. „Ich rede mich schon wieder in Rage!“, platzt es heraus. Sie lacht. „Es ist ja nicht so, dass nur wir die Brücke brauchen. Die gesamte Region braucht sie.“ Die parteilose Grit Richter ist Chefin eines siechenden Amts. Waren es 1993 noch gut 6.000 Einwohner, sind es heute 4.800.
„Wenn die Befragung negativ ausgeht – welche Zukunft haben wir?“ Die Frage, wo sie das Amt in zwanzig Jahren sieht, weist sie von sich. Verzweifelt versucht die Gemeinde, ein Baugebiet zu vermarkten. Von 16 Flurstücken sind zwei bebaut. „Über gut ausgebaute Straßen erreicht man die Kreisstadt Lüneburg“, dichtet ein ausliegender Prospekt. Grit Richter führt ins Heimatmuseum, an der Wand hängt der Staatsvertrag von 1993. In nüchternen Worten ist alles geregelt –von einer Brücke steht da nichts.
Ein Plakat mit dem lächelnden Landrat Nahrstedt von der SPD hängt am Rathaus. Im Kreistag von Lüneburg gibt es eine rot-grüne Kooperation. Einziges Problem: Die SPD war für die Brücke, die Grünen dagegen. So einigte man sich auf die Befragung. Die Brücke dürfe nicht länger nur eine Sache des Herzens sein, hatte Nahrstedt schon 2011 angedeutet. Der Kopf müsse mit ins Spiel.
Ein Biospährenreservat
Die mächtige „Tanja“ zieht über das Wasser. Die Elbe führt Hochwasser, der Fährbetrieb ist noch nicht gefährdet, doch die Überfahrt dauert länger. Am Fähranleger in Neu Darchau wohnt Andreas Conradt. „Keine Elbbrücke – vor unserer Haustür nicht und auch sonst nirgends“, macht Conradt am Hausgiebel klar. Er ist Sprecher der Bürgerinitiative „Ja zur Fähre – nein zur Brücke“. Conradt behauptet, dass er gar nicht persönlich betroffen sei. Ihn habe es eher zufällig hierher verschlagen. Er wohne zur Miete, in ein paar Jahren werde er fortziehen. Ob die Brücke nun komme oder nicht.
Conradt, Jahrgang 1965, hat nichts Deutschdeutsches zu erzählen, überhaupt hält er nichts von den Rührstücken. Die Einheit sei längst Realität, und eine Brücke werde die Abwanderung nicht stoppen. Will man 45 Millionen verbauen für vielleicht 2.000 Pendler? Die Elbtalaue ist Biosphärenreservat. Und haben die anderen Regionen nicht auch Sorgen? „Hoppe fordert Solidarität mit dem Amt Neuhaus“, sagt Conradt. „Dafür bin ich auch.“ Die Fähren müssten noch billiger, die Fährzeiten verlängert werden. „Es ist ja nicht so, dass nach 21 Uhr dort die DDR wieder aufersteht.“ Und in Bleckede setze die Fähre bis 23 Uhr über. Heute gebe es ganz andere Themen, redet Conradt weiter – Energiewende, Kita-Ausbau. Das Amt Neuhaus ist ein strukturschwacher Fleck, wie es viele gibt, in Ost und West. Historische Bezüge verfangen nicht. Conradt kennt die Elbe, wie sie heute fließt. Er müsste schon sehr genau hinsehen, um den Wachtturm zu sehen, der am Ostufer dräut.
Das Westufer liegt höher. Ein Spargelfeld steht unter Folie. Jägerzäune, Koniferen, griechische Restaurants prägen die Orte. Die Straßen sind schlechter als im Osten. Von Bleckede setzt die kleinere „Amt Neuhaus“ über den Fluss. Der Fährplan ist ausgedünnt, die Fähre braucht eine Viertelstunde hinüber, um neun ist Schluss. Wer Pech hat, wartet 30 Minuten. Hier irgendwo stand vor 23 Jahren Karl-Heinz Hoppe mit seinem Feldstecher.
Eigentlich gibt es eine einfache Begründung für die Brücke. Die Fürsten von Braunschweig-Lüneburg hatten im Amt Neuhaus ab 1698 eine sichere Einnahmequelle. Über Generationen kassierten sie von jedem Elbkahn Zoll. Neuhaus hat sie reich gemacht. Allerdings ist das mindestens 200 Jahre her. Vermutlich zu lange, um zu überzeugen. Am Sonnabend wird der Förderverein daher eine Menschenkette auf dem Deich organisieren.