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Archiv-Artikel

Brechts Johanna. Das Scheitern der Güte.

Unter den Begriffen, die hierzulande vom Einverständnis mit den herrschenden Zuständen künden, ist der des „Gutmenschen“ einer der widerlichsten. Er verhöhnt im Namen eines faulen Realismus jede Anstrengung, das eigene Leben an einem gewählten moralischen Standard auszurichten. „Gutmensch“ zu sein gilt als moralisch dünkelhaft, zudem als verdächtig. Denn hinter vorgetäuschter Güte werden finstere Ziele vermutet. Maximal uncool aber ist der wirklich gütige Gutmensch. Denn er weigert sich, die Schlechtigkeit der Welt zur Kenntnis zu nehmen.

So abgeschmackt dieser Vorwurf, bleibt dennoch eine berechtigte Frage: Was bewirkt Gutsein? Hier betreten wir ein Feld, das Bert Brecht, Kommunist, Dichter und Stückeschreiber, sein Leben lang beackert hat. In seinem Gedicht „Was nützt die Güte“ schreibt er „Anstatt nur gütig zu sein, bemüht euch / einen Zustand zu schaffen, der die Güte ermöglicht, und besser: / Sie überflüssig macht!“ Gut zu sein ist demnach kein Mittel zur Selbstvervollkommnung. Brechts Aufforderung geht über die bange Frage hinaus, die sich jeder Spender angesichts von Natur- und sonstigen Katastrophen stellt: ob sein Geld auch die Richtigen erreicht hat oder vernünftig verwandt wurde. Sie zielt auf die Ursachen der Misere, fordert dazu auf, deren Wurzel zu erkennen, entsprechend zu handeln. Sie ist also radikal.

In der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“, einem Stück, das Brecht angesichts der Weltwirtschaftskrise 1929/30 schrieb und das die Börsenmanöver wie die Klassenkämpfe im Schlachthaus Chicago zum Gegenstand hat, steht die Heldin, Johanna Dark (Jeanne d’Arc), für das Scheitern individueller Güte. Und für den Lernprozess hin zum revolutionären Engagement. Sterbend ruft sie aus: „Wie gerufen kam ich den Unterdrückern / O folgenlose Güte, Unmerkliche Gesinnung / Ich habe nichts geändert / Schnell verschwindend aus dieser Welt ohne Frucht / Sage ich euch: / Sorgt doch, dass Ihr die Welt verlassend / Nicht nur gut ward, sondern verlasst / Eine gute Welt.“ Aber ihre Einsicht wird übertönt von den Lobpreisungen ihrer christlichen Mitstreiterinnen von den „Schwarzen Strohhüten“ wie der Kapitalisten und Börsianer, die Johanna als leuchtendes Beispiel christlicher Caritas feiern. Johanna ruft zur revolutionären Gewalt gerade in dem Moment auf, wo sie als Symbol der Versöhnung zwischen „Oben und Unten“ kanonisiert wird.

In seinem Stück kontrastiert Brecht das individuelle Gut-sein-Wollen Johannas, einer sensiblen Kleinbürgerin, mit dem Klassenhandeln der ArbeiterInnen, die als Kollektiv das tun, was nützlich und notwendig ist. Seiner These nach ist es der Klassenkampf und nicht die ethische Entscheidung des Einzelnen, der die Proletarier zur Solidarität, also zum brüderlich/schwesterlichen Handeln, befähigt. Pierpont Mauler, der zynische, gleichzeitig sentimentale Kapitalist, vertritt in dem Stück den Gegenstandpunkt: „Erst muss / bevor die Welt sich ändern kann / der Mensch sich ändern.“ Aber hier besteht keine Gefahr. Denn: „Mit Ochsen habe ich Mitleid, der Mensch ist schlecht.“ Mauler lässt Johanna eine Lektion in Selbstsucht und Gemeinheit der ArbeiterInnen erteilen. Sie antwortet. „Nicht der Armen Schlechtigkeit hast du mir gezeigt, / sondern der Armen Armut.“

Sieben Jahrzehnte seit der großen Krise der 30er-Jahre haben uns darüber belehrt, dass Brechts Hoffnungen in den kollektiven Lernprozess der Ausgebeuteten kraft Klassenkampfs sich nicht erfüllt haben und die gute Gesellschaft, in der Güte überflüssig sein wird, weiter entfernt ist denn je. Aber die Frage „Was nutzt individuelles Gutsein inmitten unguter gesellschaftlich Verhältnisse?“ – sie bleibt aktuell. Aber diese Frage hat nichts zu tun mit der billigen Kritik am „Gutmenschen“. CHRISTIAN SEMLER