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Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 9: Sprottenpeter schwimmt aufs Meer hinaus

Verzweifelt zog die Besitzerin des Bioladens an dem angekokelten Sonnenschirm, dessen Brennbarkeit irgendein Idiot in der Nacht zuvor mit einem Feuerzeug getestet hatte. So konnte sie ihn jedenfalls nicht vor dem Geschäft stehen lassen. In der Makellosigkeit der umliegenden Lebenswelten, wo hinter Stuckfassaden und goldenen Klingelschildern Menschen in weißen Wohnküchen lebten, hatte sie der Scherzkeks im wahrsten Sinne des Wortes gebrandmarkt: DA stimmt was nicht. DER Laden hat ein Problem. DORT stinkt’s.

So kräftig Anne auch an dem kalten Metallständer zog, er rührte sich kaum von der Stelle. Fluchend, ächzend und mit der Geschwindigkeit einer Weinbergschnecke zog sie den lädierten Sonnenschirm zur Straße hin und versperrte somit den gesamten Gehweg.

„Darf ich?“

Anne hasste diesen Heiner-Müller-Typen, sein höfliches Getue, den Zigarrenqualm und die Schweigsamkeit. Konnte der nicht einfach mal mit anfassen? Stattdessen hob der Stammgast ihrer Nachbarin nur lässig ein Bein nach dem anderen über den verkohlten Schirm und platzierte sich an einem der Tische des blaulicht. Mit dem Ausdruck größtmöglicher Entspanntheit schlug er die Zeitung auf und ließ seine Erscheinung nahezu vollständig in deren Wirtschaftsteil versinken.

Heiner Müller hatte keine Ahnung, dass sie ihn Heiner Müller nannten, einige ihn sogar für Müller hielten, spät nachts, wenn die Bilder verschwammen. Es wäre ihm auch vollkommen egal gewesen. Vielmehr bestätigte diese Art oberflächlicher Typisierung nur seine Grundhaltung. Er verachtete die Welt in ihrer Gänze – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Brandy fand er Klasse, Zigarren und gut sitzende Anzüge. Er mochte den Ansatz seiner Haare, die Hinterteile nahezu aller Frauen und Lale, die junge Bedienung des blaulicht,deren Rüpelhaftigkeiten ihn ein ums andere Mal erheiterten. Dann wäre noch Fritze zu nennen, sein beredter Schachpartner, und Hildegard natürlich, die Wirtin, ohne deren Mutterwitz er so manches Mal – wie sie es ausdrücken würde – in die Röhre gekiekt hätte. Vor allem an den Wochenenden, wenn er nicht ins Büro ging und die Tage endlos erschienen.

Der Herbst zeigte sich weiterhin von seiner erfreulichen, farbenprächtig-milden Seite. Die Bäume, die die kleine Straße säumten, schimmerten hell in Gelb und Orange. Noch gab es keine Nackten unter ihnen. Noch standen Menschen, die Gesichter zur Sonne gewandt, mit geschlossenen Augen auf Balkonen. Die alle Sinne betäubenden Bauarbeiten an den Häusern rund um den Supermarkt und das letzte unsanierte Haus ruhten für ein paar Tage. Niemand konnte sagen, was die Unterbrechung verursacht hatte. So genossen alle die unverhoffte Atempause. Die Hartgesottenen und Frischluftfanatiker, Raucher und Menschenbeobachter belegten wieder Stühle, Tische und Bänke vor Bioladen und blaulicht.

Hildegard schob ihr Fahrrad an ihnen vorbei zur Kneipe, lehnte es an die geöffnete Eingangstür, grüßte Heiner Müller mit einem Augenzwinkern und verschwand im Gastraum, wo Sprottenpeter bereits im Biermeer versank, schläfrig und mit dem Oberkörper leicht hin und her wankend. Er hatte einen Brief erhalten, von der Ostsee, der duftete nach Marianne und Kutterdiesel und … war als Abschied formuliert. Hildegard würde sich kümmern müssen. Sie umarmte Lale, die ausnahmsweise ihre Frühschicht übernommen hatte, und schob das zerknitterte Mädchen zur Tür.

„Kannst mein Fahrrad nehmen. Hopphopp, ins Bett mit dir.“

Lale hatte ihrer Chefin zuliebe durchgemacht. Auf sie konnte sich Hildegard verlassen. Die Anzahl der Striche auf den Deckeln stimmte immer. Nur hoffentlich ging Lale jetzt wirklich ins Bett und nicht noch weiter, in die nächste Kneipe vielleicht oder zu Django, dem besten Gitarristen aller Zeiten, dessen magnetische Wirkung das Mädchen schon oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. Hildegard beobachtete mit Sorge, wie die Kleine zwar aufs Fahrrad stieg, aber schon am Tisch Heiner Müllers hängen blieb. Für sie legte er sogar seine Zeitung beiseite. Lächelte er etwa?

Anne gab auf. Schon der Versicherung wegen hatte sie die Brandstiftung an ihrem Sonnenschirm zur Anzeige bringen wollen. Aber dann hatte sie den Anruf bei der Polizei Stunde um Stunde nach hinten verschoben, und jetzt war es auch schon wieder egal. Der Laden brummte, ein freundlicher Nachbar hatte das blöde Ding zur Entsorgung mitgenommen, und wer zur Hölle brauchte an einem sonnigen Novembertag schon einen Schirm? Sie befüllte Schalen mit Kürbissuppe, reichte Brot und Käse nach draußen, schenkte Wein, Sekt und Apfelschorle in die Gläser, rief eine Freundin an, die spontan kam und half, und trotzdem blieb nicht die Luft, sich zu den Gästen zu setzen. Die Zeit verstrich im Fluge. Schwuppdiwupp. Der Tag war rum.

Erschöpft hockte Anne vor ihrem Laden und rauchte. Nebenan hatten sich die Gäste nach drinnen gesetzt. Es war kalt geworden. Der Atem schlug Wölkchen. Das grelle Licht des Supermarktes gegenüber fiel auf matschig getretenes Laub. Die Kneipentür flog auf. Heiner Müller hatte sich ein wenig übernommen. Er blieb kurz an Annes Tisch stehen, straffte seinen Körper, fixierte ein unsichtbares Ziel am Horizont und schritt geradewegs in die Dunkelheit. Hildegard rannte hinterher.

„Ey, brauchst du deinen Mantel nicht?“

Erst als der Gast, nunmehr bemäntelt, außer Sicht war, entdeckte Hildegard die rauchende Nachbarin.

„’N Abend!“

„Hast du schon mit allen gesprochen?“

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

„Psssst. Nicht hier!“

„Wo denn dann?

„Ich geb’dir morgen bescheid.“

„Morgen? Warum erst morgen?“

Hildegard warf Anne einen ihrer gefürchteten Blitzblicke zu. Männer von der Größe eines Eisbären erstarrten, dem Delirium nahe Berufstrinker wurden wieder nüchtern, wenn sie so schaute. So erschrak auch Anne und flüsterte:

„Okay, morgen.“

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