Stoiber macht den Trieze-Kanzler

Die SPD sucht einen neuen Chef, das zukünftige Kabinett in Berlin einen neuen Wirtschaftsminister. Und Angela Merkel will alles, nur keine Neuwahlen

Merkel: „Sicher bin ich mir, dass ich gerade hier stehe und mit Ihnen spreche“ Möglich, dass eine Nach-Müntefering-SPD Zugeständnisse fordert

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Von Angela Merkel heißt es, sie sei immer dann am stärksten, wenn ihre Lage ganz besonders schwierig ist. So gesehen müsste die CDU-Chefin vor Kraft platzen. Denn fast nichts schien gestern schwieriger, als ihre Ziele zu erreichen: Kanzlerin werden und eine stabile Regierung bilden.

Ausgerechnet jene zwei Männer, mit denen Merkel im September das Unternehmen große Koalition begonnen hatte, mit denen sie alles abgesprochen hatte – Regierungsmannschaft und Fahrplan –, sorgten jetzt für die bisher größten Turbulenzen.

Von Franz Müntefering hatte Merkel ursprünglich erhofft, dass er seine Sozialdemokraten dauerhaft diszipliniert. Stattdessen gibt er, schon bevor die neue Regierung anfängt, ohne Not den SPD-Vorsitz ab – und Merkel weiß noch nicht einmal, an wen. Immerhin, das dürfte sie etwas beruhigen, will er weiter Vizekanzler und Arbeitsminister werden.

Der als Wirtschaftsminister vorgesehene CSU-Chef dagegen bleibt als Ministerpräsident in München – und Merkel weiß nur: Von dort aus wird er ihr nicht helfen. Edmund Stoiber hat sich nach langem Zaudern entschieden: Wenn er schon nicht verhindern kann, dass Merkel an die Macht kommt, erfindet der Bayer eben einen neuen Job für sich: den Trieze-Kanzler. Mit der Option, jederzeit zu stören, aber ohne Verantwortung zu übernehmen.

So deutlich wie Stoiber gab seit Franz Josef Strauß selig kein Unionspolitiker mehr zu erkennen, dass für ihn die Loyalität zur eigenen Unions-Schwester gar nichts, die eigenen Wünsche alles zählen. Münteferings Rücktritt als „veränderte Lage“ zu bezeichnen, die ihn seinen Wechsel nach Berlin abblasen ließ, war Merkel gegenüber unverschämt, aber wenigstens erfrischend ehrlich. Von einem Parteifreund, selbst von einem Münchner, müsste eine Kanzlerin in spe erwarten können, dass er als Stabilisator auftritt und zur Hilfe eilt, wenn der Koalitionspartner wackelt, wankt. Stoiber tat genau das Gegenteil und wankte selbst. Als jemand fragte, ob er ohne seinen „Freund“ Müntefering noch mitmache, grinste Stoiber. Der Sozialdemokrat Müntefering ein wichtigerer Ansprechpartner für ihn als die CDU-Chefin Merkel? So sah es aus – und Stoiber tat nichts, um dies zu dementieren. Merkel stand fassungslos daneben. Sprachlos. Unverhohlen hatte der Bayer damit eine Theorie bestätigt, die vorher nur Mutmaßung war: dass er mit Müntefering zusammen regieren wollte, wichtige Entscheidungen in Männergesprächen zwischen SPD- und CSU-Chef treffen wollte – über Merkels Kopf hinweg.

Genauso unverhohlen, aber im Unterschied zu Stoiber bisher nur hinter vorgehaltener Hand, räumen deshalb inzwischen zahlreiche CDU-Politiker ein, sie wünschten sich den bayerischen Ministerpräsidenten Gott weiß wohin, nur nicht ins Berliner Kabinett. Als gestern gemeldet wurde, statt Stoiber solle CSU-Landesgruppenchef Michael Glos Wirtschaftsminister werden, atmeten in der CDU einige hörbar auf. Doch natürlich gaben auch sie sich einer Illusion hin, einer Hoffnung, die kaum aufgehen dürfte: dass mit dem möglicherweise pflegeleichteren, Merkel-kompatiblen Glos das Problem Stoiber aus der Welt wäre. Aber es ist so oder so ja auch beileibe nicht das einzige Problem. Kaum jemand in Merkels Umfeld hatte erwartet, dass die SPD so auseinander fallen würde. Die designierte Kanzlerin und ihre Helfer hatten ernsthaft geglaubt, Müntefering würde seinen Laden zusammenhalten und eine stabile Regierung garantieren. Jedenfalls eine Zeit lang.

Doch zwei Wochen vor dem geplanten Abschluss der Koalitionsverhandlungen ist nur eines stabil: die Unsicherheit, ob überhaupt eine neue Regierung zustande kommt. Und wenn ja, mit wem. Selten hat man so viele Politiker so ratlos und verwirrt erlebt. Völlig ungesteuert werfen die einen das Wort „Neuwahlen“ in die Runde. Andere appellieren an die „Vernunft der Volksparteien“. Wieder andere hoffen erneut auf „Jamaika“, auf Schwarz-Gelb-Grün, als Ausweg, doch einen Plan hat niemand. Das einst so ruhig dahinregierte Deutschland wirkt plötzlich führungslos. Kopflos. Orientierungslos.

Anarchische Verhältnisse? Das ist natürlich Unsinn – um die Demokratie muss man sich nicht sorgen. Im Gegenteil: Ausgelöst wurde das allgemeine Chaos ja gerade durch einen höchst demokratischen Vorgang. Doch die Tatsache, dass sich der SPD-Parteivorstand in einer Personalfrage gegen den Wunsch des Parteivorsitzenden entschieden hat, löste Folgereaktionen aus, mit denen selbst routinierte Politmanager nicht zurechtkommen. Auf die sie keine Antwort haben. Nichts scheint mehr kontrollierbar. Jedenfalls nicht nach gewohnten Mustern. Einige scheinbar unumstößliche Gewissheiten des bundesrepublikanischen Politbetriebs lösen sich in Luft auf. Vor allem die eine: dass sich die wichtigsten Parteiprotagonisten, wenn es darauf ankommt, zusammenreißen. Dass sie persönliche Verletzungen abhaken, innere Widerstände überwinden und irgendwie doch eine Regierung bilden.

„Ein neuer Anfang“: Immer noch prangt am Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale in Berlin, ein riesiges Wahlkampfplakat mit diesem Slogan und einem Foto der strahlenden Kandidatin. Doch als die Neuanfängerin in spe nach der letzten Verhandlungsrunde mit der SPD am Montagabend gefragt wurde, mit welchen Partnern sie noch sicher rechnen könne, griff sie zu einem Stilmittel, für das sie bisher nicht bekannt war: Zur Ironie. „Sicher bin ich mir, dass ich gerade hier stehe und mit Ihnen spreche“, sagte Merkel. Und fügte lapidar hinzu, wo ein Wille sei, da sei auch ein Weg. Der Weg wohin?

Bis jetzt hat Merkel noch einen Vorteil: Im Vergleich zu dem aufgescheuchten Haufen namens SPD und dem Zappel-Edmund aus München erscheint sie wie die letzte ruhige Kraft, die zumindest eines behält: Nerven. Aber ob das reicht? Merkel wird alles tun, um die große Koalition zustande zu bekommen. So viel scheint klar, nach allem, was aus ihrer Umgebung zu hören ist. An Neuwahlen, so wird versichert, denkt sie nicht. Aus guten Gründen: Erstens kann Merkel trotz der SPD-Krise niemand garantieren, dass beim nächsten Mal Schwarz-Gelb gewinnt. Zweitens kann Merkel erst recht niemand garantieren, dass sie im Fall des Falles überhaupt noch einmal als Kandidatin nominiert wird. Sie muss also jetzt ihre Chance suchen. Doch ihr Handlungsspielraum ist eng. Gut möglich, dass eine Nach-Müntefering-SPD noch mehr inhaltliche Zugeständnisse von Merkel fordert. Was dann? Werden die Wulffs und Kochs doch noch ihren Sturz versuchen? Spätestens seit der Causa Nahles weiß auch Merkel: Ein scheinbar nichtiger Anlass kann dafür reichen.