Da schwappt die Koalition

Rente mit 67, Steuern hoch, Kündigungsschutz weg: Die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU ergeben jeden Tag eine neue schlechte Nachricht. Warum bleibt die öffentliche Empörung aus?

Keiner regt sich auf, denn es sind einfach zu schnell zu viele NeuigkeitenDas nützt bloß den Koalitionären, für die meisten anderen ist es tragisch

VON ULRIKE WINKELMANN

Koalitionsverhandeln, das geht so: Jeden Tag sitzen an verschiedenen Tischen irgendwo im Berliner Zentrum je ein Dutzend Abgeordnete und Spitzenpolitiker von SPD und Union beieinander. Sie haben Papiere dabei und tragen sich gegenseitig ihre Forderungen vor. Richtig auf Zack sind auf beiden Seiten sowieso nur zwei oder drei. Die anderen halten meistens den Mund. Vielleicht bringen sie noch die Botschaft des größten Unternehmens in ihrem Wahlkreis einmal unter.

Zwischendurch müssen alle mal auf den Flur zum Telefonieren. Sie kommen dann mit neuen Zahlen zurück. Das stimmt gar nicht, was Sie sagen, in Wirklichkeit sind die Kosten so und so stark gestiegen. Lassen Sie uns doch in Ruhe mit Ihrem Lobby-Getröte. Wenn wir nicht wollen, dass nachher Angela Merkel und Franz Müntefering alles allein entscheiden, müssen wir uns jetzt auf irgendetwas einigen.

Wenn entweder die Unions- oder die SPD-Unterhändler oder alle beide einen kleinen Sieg feiern wollen, erzählen sie der Presse, was sie erreicht haben. So entstehen Titelzeilen wie: Kündigungsschutz kippt. Steuerlast steigt. Rente mit 67 kommt.

Nicht alles von dem, was da steht, wird auch so im Koalitionsvertrag stehen. Denn am Ende werden Merkel und Müntefering noch einmal Zugeständnis hier gegen Zugeständnis dort tauschen. Wie sagte Merkel nach der jüngsten „großen Runde“? „Es ist nichts vereinbart, bevor nicht alles vereinbart ist. Und es ist nichts aufgegeben, bevor nicht alles … vereinbart ist.“ Beinahe hätte sie „bevor nicht alles aufgegeben ist“ gesagt. Aber durch das erwartungsfroh beginnende Kichern der Journalisten bremste sie kurz vor einem ihrer Sprachpatzer ab und nahm die richtige Sentenzkurve.

Dennoch lässt sich am Ernsthaftigkeitsgrad, mit dem die Koalitionsspitzen über Vereinbarungen sprechen, ermessen, woran sie festhalten werden. Nicht mehr dementiert wird die Erhöhung der Mehrwertsteuer – wahrscheinlich in Stufen, womöglich auf 20 Prozent. Letzteres deutete gestern nicht von ungefähr der künftige SPD-Chef Matthias Platzeck an: Noch genießt er einen Sympathiebonus.

Er könnte ihn bald verbraucht haben. Denn zu der allgemeinen Belastung des Konsums kommen für große Bevölkerungsteile große Zusatzbelastungen. Ganz klar hart wird es für Rentner – für heutige wie für künftige. Die jetzigen 20 Millionen Rentner werden nicht nur ein, sondern noch drei oder vier (oder mehr) Jahre mit „Nullrunden“ leben müssen. Das sind gemessen an den allgemeinen Preissteigerungen faktische Minusrunden, also Kürzungen. Gleiches gilt für die Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld II – bleibt die Rente stehen, stagnieren auch diese Leistungssätze.

Und noch ist ungewiss, ob die Senioren bald mehr für Kranken- und Pflegeversicherung zahlen müssen werden. Die Rentner ab 2035, die heute unter 40-Jährigen also, werden erst mit 67 in Rente gehen dürfen – ohne Abschläge. Wer vorher schlapp macht, muss dann eben mit einer Dreiviertel- oder Vierfünftel-Rente leben.

Jede Einzelne dieser Vielzahl von schlechten Neuigkeiten für Millionen von Menschen wäre medientechnisch eine Bild-„Wutwelle“ wert. Doch wenn die SPD gerade alle ihre Chefs austauscht, Edmund Stoiber gar nicht Wirtschaftsminister wird, sondern wieder nach Bayern geht und sowieso jeden Tag gleich eine Hand voll solcher Nachrichten herauskommt, wird das Interesse zerstreut. Der so genannte öffentliche Diskussionsdruck entsteht nicht.

Es ist einfach zu schnell zu viel. Das nützt bloß den Koalitionären. Für die meisten anderen ist es tragisch. In ein paar Tagen – wenn nicht doch noch alle „alles aufgeben“ –, wird es einen Koalitionsvertrag geben, in dem dutzende böse Ankündigungen dicht an dicht beieinander stehen. Und dieser Koalitionsvertrag wird gewichtiger sein als etwa sein rot-grüner Vorgänger 2002.

Denn erstens vertrauten sich die Roten und Grünen immerhin so weit, dass unvertragliche Bewegung einkalkulierbar war. Zweitens hatten die Roten, insbesondere ihr Chef Gerhard Schröder, ohnehin nicht die Absicht, die Grünen sonderlich ernst zu nehmen. Vertrauen einerseits – Missachtung andererseits: Das klingt jetzt bloß nach Gegensatz. Die rot-grüne Regierung funktionierte so, dass die Grünen „ihrs“ bekommen sollten, Homoehe und so. Ansonsten machte Schröder, was er wollte. Zeit zu diskutieren gab es bloß deshalb, weil seine Mehrheiten im Bundestag knapp waren und im Bundesrat die Opposition herrschte.

Das ist bei den Schwarzen und Roten anders. Sie sind nahezu gleich stark, und sie werden bei den nächsten Wahlen wieder gegeneinander kämpfen. Der Vertrag, den sie Mitte November unterzeichnen, wird das gemeinsam Gewollte umreißen, und ansonsten gönnt man sich nicht mehr das Schwarze unterm Fingernagel. Zwecks Umsetzung verfügt die neue Regierung über 448 Stimmen von 614 im Bundestag – und der Bundesrat ist auch dabei.

Es ist, als schwappte diese große Koalition einfach über ein Land, das die Agenda-2010-Politik eigentlich abgewählt hat.