Unbedingt wertvoll

THEATERFESTIVAL Zum vierten Mal fragen die Lessingtage des Thalia Theaters, was aus der Idee einer transnationalen, multireligiösen und multiethnischen Willensgemeinschaft geworden ist. Den Blick richtet das Festival dabei dieses Jahr auf das krisengeschüttelte Europa

„Circo Ambulante“ entwirft auf einer Vulkaninsel eine moderne quijotistische Welt

VON ROBERT MATTHIES

Es ist die klassische Formulierung des aufklärerischen Toleranzideals. Auf Saladins Frage, welche der monotheistischen Religionen denn nun die wahre sei, lässt Gotthold Ephraim Lessing seinen weisen Nathan mit der berühmten Ringparabel antworten. Unzeitgemäß war die darin implizierte Forderung nach unbedingter Toleranz schon zu Lessings Zeiten, unzeitgemäß klingt sie auch heute noch.

Wer oder was nun dazugehören darf, zur Gesellschaft und zur Wahrheit, das wollen damals wie heute die mehr oder weniger selbst ernannten Experten aller Provenienz entscheiden: Statt über die demokratische Anerkennung des anderen als Weltbürger diskutiert man lieber unaufhörlich über Integration und Irrtümer. Dabei könne der Wert eines Menschen, davon war der Aufklärer überzeugt, nur unabhängig von der Frage nach der Wahrheit, in deren Besitz er sich wähnt, ermittelt werden. Denn dass man sich nun mal die meiste Zeit irrt – schlicht menschlich.

Worauf es stattdessen ankomme, das sei „die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen“. Den anderen anzuerkennen sei folglich keine Frage von Theologie und Wissenschaft, nicht einmal eine der gegenseitigen Übereinstimmung – sondern eine der Ethik. Damit sich die Vernunft entwickelt, brauche es überhaupt gar keine göttliche oder wie auch immer geartete Offenbarung – einzig Kritik und Widerspruch seien vonnöten.

Zum vierten Mal fragen die 2010 von Intendant Joachim Lux ins Leben gerufenen Lessing-Tage des Thalia Theaters Ende Januar und Anfang Februar – in den Wochen zwischen Lessings Geburts- und Todestag – wie eine kosmopolitische Kultur heute aussehen könnte und was aus der Idee einer transnationalen, multireligiösen und multiethnischen Willensgemeinschaft in den letzten zwei Jahrhunderten geworden ist.

Den Blick wirft das Festival dieses Jahr – erneut unter dem Motto „Um alles in der Welt“ – auf das krisengeschüttelte Europa, will nach den Gemeinsamkeiten demokratischer und posttotalitärer Regime fragen und nach dem, was die unterschiedlichen Kulturen des heterogenen Kontinents verbindet. Die Eröffnungsrede liefert dazu den gewünschten Blick von außen: Wie er Europa sieht, das erzählt der chinesische Dichter Liao Yiwu am Sonntagvormittag. Zum Abschluss fragt die „Lange Nacht der Weltreligionen“ nach der individuellen Entscheidungsfreiheit des Menschen: Wie nehmen Juden, Christen und Muslime sie vor dem Hintergrund eines göttlichen Willens wahr? Wie fassen Hindus das Verhältnis von Vorsehung und Freiheit auf?

Mehr als 60 Veranstaltungen finden in den nächsten zwei Wochen im Rahmen der Lessing-Tage statt, zu sehen sind große internationale und nationale Gastspiele und eigene Produktionen, eingerahmt von Lesungen, Filmvorführungen, Konzerten, einem Symposium, einem Poetry Slam und Stadtführungen.

Den Auftakt macht dabei am Freitagabend der junge Regisseur Antú Romero Nunes mit einem Abend über jenen großen Verführer, dessen Eros zwar Geschlechtsgrenzen, aber keine kulturellen, politischen oder religiösen Eigenheiten beachtet hat. „Don Giovanni. Die letzte Party“ heißt Nunes’ Stück nach Mozart und da Ponte. Mit den ganz und gar ungeklärten Verhältnissen zwischen kapitalistischem Subjekt und Solidarität beschäftigt sich das Gastspiel der Berliner Volksbühne. In René Polleschs „Kill your Darlings! Streets of Berlidelphia“ versucht Fabian Hinrichs mit zehn Kunstturner_innen eine Beziehung einzugehen.

Zum „Circo Ambulante“ lädt Anfang Februar das Moskauer Theater der Nationen. Regisseur Andrej Mogutschi erschafft auf einer kleinen Vulkaninsel ein „Weltzentrum der Clownerie“ und eine moderne quijotistische Welt, in der Traum und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden sind.

■ Fr, 25. 1. bis Sa, 9. 2., Thalia Theater, Alstertor 1, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, sowie diverse Orte in der ganzen Stadt, Programm unter www.thalia-theater.de