Ein Tod mit vielen Zwischenstufen

Wie starb Walter Benjamin? Ein Dokumentarfilm aus Barcelona stellt die Selbstmordthese in Frage

Experten wissen lange, dass im Fall Benjamin „etwas nicht zusammenpasst“

Am 26. September 1940 starb der Philosoph, Essayist und Kunsttheoretiker Walter Benjamin in der katalanischen Grenzstadt Portbou. Die genauen Todesumstände wurden nie aufgeklärt. Benjamin, der sieben Jahre im französischen Exil gelebt hatte, befand sich auf der Flucht vor den vorrückenden deutschen Truppen. Bei sich trug er sein letztes Manuskript sowie ein gültiges Durchreisevisum für Spanien. Sein Ziel war Lissabon, wo er sich Richtung USA einschiffen wollte. Doch hinter der Grenze war Endstation: Eine soeben von Franco erlassene Gesetzesänderung zwang ihn dazu, sich in einer Pension in Portbou einzuquartieren. Er musste auf die Deportation ins besetzte Frankreich warten. Gleich in der ersten Nacht fiel Benjamin in Agonie, 24 Stunden später war er tot. Der örtliche Arzt bescheinigte einen natürlichen Tod. In einem Brief an seinen Freund Theodor W. Adorno, den Benjamin seiner Mitreisenden Henny Gurland diktierte, sprach er jedoch von seiner Absicht, sich das Leben zu nehmen.

Ein Dokumentarfilm, der kürzlich in Barcelona Premiere hatte, stellt nun die bisher weithin akzeptierte These, Benjamin habe seinem Leben mit einer Überdosis Morphium ein Ende gesetzt, in Frage. Der Regisseur David Mauas, argentinisch-jüdischer Abstammung, sprach bei den vierjährigen Recherchen für „Wer tötete Walter Benjamin?“ mit Benjamin-Experten in Deutschland, Spanien, Frankreich und Israel sowie mit Zeitzeugen in Portbou. Mauas begibt sich in das Labyrinth der Geschichte wie eine Mischfigur aus Benjamin’schem Flaneur und zielstrebigem Kriminalisten. Immer wieder fährt seine Kamera die Zugangswege nach Portbou ab, streift rastlos durch die Straßen der Stadt, um unversehens eine Person, eine Fassade, ein Dokument zu erfassen. Beharrlich fragend entlockt Mauas betagten Zeitzeugen aufschlussreiche, von der internationalen Benjamin-Forschung kaum beachtete Details. Das Portbou des Jahres 1940 erscheint als Wespennest, in dem ein Flüchtling leicht zwischen die politischen Fronten geraten konnte. Erst ein Jahr zuvor war die Stadt Schauplatz eines Flüchtlingsstroms in die entgegengesetzte Richtung. Gegen Ende des Spanischen Bürgerkriegs versuchten tausende Republikaner, die Grenze nach Frankreich zu überqueren.

Die Schlüsselfiguren am Ort lassen auf ein Flüchtlingen gegenüber höchst feindliches Ambiente schließen: Der Inhaber der Pension, in der Benjamin starb, emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Venezuela, weil die französischen Behörden seine Auslieferung als Nazikollaborateur verlangten. Die Gestapo führte ein Verbindungsbüro in Portbou. Der Arzt, der den Totenschein für Benjamin ausstellte, war höchstwahrscheinlich an dessen Todestag überhaupt nicht in Portbou. Es liegt daher nahe, dass Benjamin in Wirklichkeit von dem einzigen anderen Mediziner am Ort behandelt wurde. Und der war gleichzeitig Chef der örtlichen Falange. Der Priester, der Benjamin in ungewöhnlicher Eile nach katholischem Ritus auf dem Friedhof bestatten ließ, war ein notorischer Kommunistenfeind. Die Eintragungen des Kirchenbuchs und das amtliche Todeszertifikat weisen unterschiedliche Todesdaten auf. Der Amtsrichter soll später in einem vertraulichen Gespräch erklärt haben, er sei unter Druck gesetzt worden, die Leiche schnell freizugeben.

Ein im Film interviewter spanischer Gerichtsmediziner erklärt es für unwahrscheinlich, dass Benjamin Stunden nach der angeblichen Einnahme des tödlichen Morphiums noch klare Gespräche mit Henny Gurland führen und ihr einen Brief habe diktieren können. Laut David Mauas haben katalanische beziehungsweise spanische Experten schon seit langem gewusst, dass im Fall Benjamin „etwas nicht zusammenpasst“, es seien auch Aufsätze zum Thema erschienen. Dagegen hätten die Benjamin-Forscher aus anderen Ländern, darunter auch die deutschen, den Ungereimtheiten diverser Quellen keine weitere Bedeutung beigemessen. Die Tatsache, dass Benjamins Abschiedsbrief nur noch als Kopie existiert – Gurland gab an, sie habe das Original auf ihrer Flucht zerstören müssen – wurde fraglos hingenommen. Es wurde die Chance vertan, die in die USA emigrierte Henny Grundland persönlich zu befragen, um Licht in ihre teilweise sehr widersprüchlichen Aussagen zu bringen.

Mittlerweile sind alle direkten Zeugen von Benjamins Tod verstorben. So werden sich die Indizien wohl niemals zu einer lückenlosen Kette fügen. Aber zumindest kann man nach David Mauas’ filmerischen Recherchen nicht mehr so eindeutig annehmen, dass Benjamins Todesursache Selbstmord ohne fremde Einwirkung war. „Benjamin kämpfte“, so Mauas, „sein Leben lang dafür, nicht in Schablonen gepresst zu werden. Viele haben versucht, ihn in das Klischee des Melancholikers zu pressen, des Weltfremden, der mit seinem Leben nicht zurecht kam. Die Frage, wie Benjamin starb, ist wichtig, um sein Andenken nicht mit einem Tod zu belasten, den er so nicht erlitten hat. Auf dem Weg zwischen Selbstmord und Mord gibt es viele Zwischenstufen.“

BETTINA BREMME