STEFAN KUZMANY über GONZO : Meine neuen Wurzeln
Vorsicht! Schlimmste Klischees und Vorurteile! Oder: Wie ich erst Ossi und dann Chef werde
Mit einem Schlag wurde mir klar, was zu tun war. Ich musste mein Leben von Grund auf ändern. Vor allem: mein bisheriges. Wenn ich Erfolg haben wollte, an die Spitze kommen, musste ich zum Ossi werden. Noch mehr: Alle mussten glauben, dass ich schon immer ein Ossi gewesen war. Von da an würde alles ganz einfach sein.
Denn über kurz oder lang würde sich in dieser Zeitung etwas ändern, eine Führungskrise war unausweichlich, die Chefredakteurin würde eine Schwarzgeldaffäre haben oder an der Durchsetzung einer Personalidee scheitern, großes Geschrei, erzwungene Absetzung oder selbstgewählter Rückzug, dann die verzweifelte Suche nach neuen, unverbrauchten Kräften, nach jemandem, der unbelastet einen Neuanfang wagen und volksnah Reformen verkünden könnte. Ich musste gerüstet sein für diesen Fall. Für jeden Fall.
Mission: Ossi werden. Erster Schritt: Ich seufzte viel und kaufte mir ein Rüschenhemd. Aber jeder in der Redaktion wusste, dass ich aus Bayern komme. Eine Legende musste her. Der exotische Nachname, oft falsch geschrieben oder verballhornt, geriet zum Vorteil. Abends, beim Bier nach der Produktion an den roten Tischen des taz-Cafés, ließ ich meine neue Lebensgeschichte in die Köpfe der Kollegen einsickern, subtil, nicht zu aufdringlich, eher nebensächlich. „Am Anfang war es für mich nicht leicht am Gymnasium in Bayern“, sagte ich beiläufig, als die Rede auf die Pisa-Studie kam. „Die hatten ja ein ganz anderes System. Und mit meinem Russisch konnte ich wenig anfangen.“ Ungläubige Nachfragen. Sie wollten es wissen, und ich erzählte es ihnen. Kurz vor dem Mauerfall waren meine Familie und ich, aus der Sächsischen Schweiz, ursprünglich aus den Karpaten stammend, über Ungarn in den Westen gekommen. Wir hatten Verwandte in Bayern (mütterlicherseits), die halfen uns bei der rapiden Assimilation, denn als die Grenze offen war und alle ohne Risiko rübermachen konnten, da war es mit der Sympathie für die Brüder und Schwestern aus dem Osten schnell vorbei, sie nahm umgekehrt proportional zur Anzahl der Neuankömmlinge ab. Wir verschwiegen unsere Herkunft, vergruben sie tief in unseren Herzen, wurden zu Bayern. Aber jetzt soll das Versteckspiel endlich vorbei sein.
Ich suche meine neuen Wurzeln, meine Identität, lebe meine Erfahrungen. Mühsam trainiere ich mir jedes Anzeichen süddeutscher Sprachfärbung ab. Momente ungezügelter Verärgerung kommentiere ich nicht mehr mit „Zefix!“, sondern mit „Verbibscht!“. Sonst ist es nicht nötig, viel zu ändern. Das Wichtigste: die von mir schon vor Jahren zufällig entdeckte „Ossi-Pause“: das Gegenüber ausreden lassen, dann eine Pause machen (nicht länger als 5 Sekunden) und dann bedächtig dreinblickend etwas erzählen, was mit dem gerade Gesagten nicht viel zu tun hat, aber eine gewisse Verbitterung über das Nicht-verstanden-Werden ausdrückt.
Noch immer gibt es Zweifel. Aber ich habe gut geplant – meine bewegte Lebensgeschichte nach der Wende steht wie eine Eins: Bevor ich Journalist wurde und zur taz kam, habe ich zuerst mal Amerika bereist (durften wir ja damals nicht), dann mit Fördergeldern in Berlin die „Agentur für Zukunftsfragen“ gegründet, die das Prinzip des runden Tischs in Konzernen einführen wollte (kein Interesse), war dann ein Jahr arbeitslos (offiziell) und verkaufte im Direkt-Marketing-System Trinkwasserfilter, Diätpillen und Kosmetika (erfolglos). Um die Direkt-Marketing-Geschichte glaubwürdig zu unterfüttern, werde ich einige dieser nutzlosen Produkte erwerben und im Bekanntenkreis verschenken („Die habe ich noch kistenweise im Keller“). Zudem plane ich eine Ausbildung zum geprüften Cranio-Sakral-Therapeuten (in der Schweiz).
Jetzt steht meinem Aufstieg nichts mehr im Wege. Schon jetzt fordere ich täglich mehr Ost-Kompetenz auf der Redaktionskonferenz. Die Chefredakteurin, es kann nicht mehr lange dauern, wird straucheln. Und dann schlägt meine Stunde. Wenn mir nicht noch jemand eine Stasi-Verstrickung anhängt.
Fotohinweis: STEFAN KUZMANY GONZO Fragen zur Ossi-Pause? kolumne@taz.de MORGEN: Arno Frank über GESCHÖPFE