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Archiv-Artikel

Die stilistische Schwerelosigkeit

EXPERIMENTALMUSIK Das CTM-Festival verspricht in seiner aktuellen Ausgabe ein „Goldenes Zeitalter“. Auf die Musikindustrie mag das zynisch wirken, für die Freiheiten der Künstler aber stimmt das allemal

VON TIM CASPAR BOEHME

Alle reden von der Krise der Musikindustrie. Mit einigem Grund: Die Bedingungen, unter denen man als Musiker heute sein Geld verdient, haben sich während der vergangenen Jahre stark verändert. Besonders experimentelle Musiker müssen sich ganz schön umsehen, wenn sie von ihrer Kunst leben wollen.

Vor diesem Hintergrund könnte man es fast zynisch finden, wenn das auf abenteuerliche – will sagen: eingeschränkt kommerziell verwertbare – Musik spezialisierte CTM-Festival, das am Freitag eröffnet wird, in diesem Jahr „The Golden Age“ ausruft. Was soll da bitte golden sein? Auch die große Aufbruchstimmung, wie sie unter experimentellen elektronischen Musikern, die den Großteil des Programms bestreiten, noch vor einigen Jahren herrschte, ist einem allgemeinen Vor-sich-hin-Wurschteln gewichen. Einen neuen Trend oder gar eine musikalische Revolution kann man eigentlich nicht erkennen.

Doch genau das, so die Veranstalter des CTM, ist der Grund, warum die Zeit zum Musikmachen dieser Tage so gut ist wie lange nicht mehr: Man muss keiner dominierenden Ästhetik hinterherlaufen, muss sich nicht um die Marktfähigkeit seines „Produkts“ kümmern – den Markt gibt es eben nicht mehr –, sondern kann seinen eigenen Stil verfolgen, ohne das Rad oder den Synthesizer neu erfinden zu müssen.

So gesehen, wirkt das Konzept des Auftaktkonzerts am Montag im HAU 2 wie eine Auftragsarbeit. „Bauteile“, eine gemeinsame Klangkomposition des elektronischen Produzenten Uwe Schmidt alias Atom TM und des Klangkünstlers Marc Behrens, beruht auf dem Gedanken, „dass jegliche musikalische Struktur in einer Art historischer und stilistischer Schwerelosigkeit existiert und somit prinzipiell zwischen allen Stilen und Epochen hin und her driften kann.“

Kraftwerk auf Bossa

Dieses „Postulat“ ist jedoch keine dem Festivaltitel geschuldete Kopfgeburt, sondern entsprang der persönlichen Erfahrung der beiden. Zudem begannen Schmidt und Behrens schon vor zwei Jahren mit dem Stück, das sich über 50 Minuten scheinbar ziellos durch die verschiedensten musikalischen Codes bewegt. Uwe Schmidt, einer der produktivsten deutschen Elektroniker, von abstrakter Computermusik bis zu Kraftwerk-Coverversionen auf Bossa-Basis (Senor Coconut) mit allen möglichen Genres vertraut, beschreibt die Idee hinter der Komposition „Bauteile“ im Interview so: „Wir hatten das Gefühl, dass wir wieder in einer Zeit angelangt sind, die weit hinter der Postmoderne liegt. Es geht nicht mehr um Sampling, es geht nicht mehr um Zitate, es geht nicht mehr um Revivals oder irgendwie Retro, sondern man ist in so einer Art Omnipräsenz von allem. Wo nichts wirklich greifbar ist, nichts wirklich lange bestehen bleibt. Es taucht alles kurz auf und steht so nebeneinander. Anfangs fand ich das ein bisschen verstörend, irgendwann sah ich darin aber auch einen Freiraum.“

Laptop als Performance-Instrument

Diesen Freiraum nutzen auch andere Künstler des Festivals. wie etwa der Londoner Dean Blunt, eine Hälfte des Freiform-Duos Hype Williams, der unbekümmert HipHop, R&B oder Dub zu tagtraumartigen Collagen durch die Popkultur montiert. Am 1. Februar stellt er im HAU 1 sein aktuelles Album „The Narcissist II“ vor. Oder die US-amerikanische Komponistin Holly Herndon, die sich für den Laptop als Performance-Instrument einsetzt. Nachdem der tragbare Rechner um die Jahrtausendwende einen raschen Höhenflug als universell einsetzbares mobiles Studio genoss, gingen viele Elektroniker bald wieder mehr dazu über, die bläulich schimmernden Monitore auf der Bühne durch üppig verkabelte antike Analoggeräte aus der Frühzeit der Tongeneratorenherstellung zu ersetzen, weil das als direkter und authentischer galt.

Mensch und Maschine

Herndon, die Donnerstag im Berghain spielt, besteht hingegen darauf, dass Laptops zu den persönlichsten Geräten zählen, mit denen wir im Alltag umzugehen pflegen. Sie begleiten von der Kommunikation über die Arbeit bis zum Konsum so ziemlich jeden Schritt unseres Lebens. Im Konzert unterwandert Herndon die Grenze zwischen Mensch und Maschine durch den Einsatz ihrer Stimme, die sie mit spezieller Software manipuliert.

Die Grenze zwischen Club und akademischer Klangforschung verwischt ebenfalls zusehends. Im vergangenen Jahr fielen unter anderem die Schallplatten des Berliner Labels PAN als erfrischend unbekümmerte Hybride auf, deren Künstler sich weniger um die „Funktionalität“ ihrer Musik als um einen sehr idiosynkratischen Zugang zu Clubmusik bemühen: Lee Gamble, Mark Fell oder Heatsick, zufälligerweise alles Briten, machen mit ihren Produktionen vor allem Lust aufs Zuhören. Bewegen kann man sich dann ja immer noch.

Die Rede vom „Golden Age“ scheint daher angebracht. Oder um es in Uwe Schmidts Worten zu sagen: „Es ist ein sehr spielerischer Ansatz, das so zu betiteln und dem einen positiven Swing zu geben: Kümmer dich doch mal nicht darum, was jetzt angesagt ist. Probier es aus!“