: Alle müssen Krieger sein
NAHER POP-OSTEN Eine Reise durch alle Widersprüche dieser Welt in nur einer Woche – mit deutschen Popjournalisten unterwegs in den Szenen von Israel und Palästina
VON KIRSTEN RIESSELMANN
Jonathan steht auf der Straße, in dunkler Hose und Strickjacke, die Schläfenlocken hat er unter der Kippa versteckt. Es ist drei Uhr nachts, wir haben gerade im Jerusalemer Indie-Club Ha’Katze die Weirdo-Grunge-Band Inga Dingo gehört und mit dem letzten linken Israeli – so sagten seine Freunde grinsend – Arrak getrunken. Der letzte linke Israeli geht regelmäßig zu Zaundemos und organisiert Führungen durch die palästinensischen Viertel Ostjerusalems, die von israelischen house demolitions betroffen sind.
Und jetzt steht da dieser 25-jährige Orthodoxe vor uns und fragt, ob wir ihn nicht noch in eine Kneipe begleiten wollten. Er habe sich extra aus seinem streng religiösen Stadtteil geschlichen und wolle ein bisschen Spaß haben, vielleicht ein Mädchen kennenlernen, das ginge bei ihm ja sonst jenseits der arrangierten Heirat nicht. Da kichert Jonathan und erklärt, er sei eben ein bisschen meschugge.
Schlaflos in Tel Aviv
Was man normal und was man tatsächlich verrückt finden soll, verschiebt sich in Israel eigentlich dauernd. Die Widersprüche liegen hier mal offen zutage, werden weidlich diskutiert und Lösungsvorschlägen zugeführt, mal entdeckt man sie in den Geschichten der Leute, mal haben sie auch mit dem eigenen Deutschsein zu tun. Auf jeden Fall schwirrt einem nach wenigen Tagen der Kopf. Nach jedem Gespräch wird das verstehende „Aber ja!“ gleich wieder hinterrücks vom „Ja, aber …“ angefallen, und binnen kürzester Frist sind unsere Köpfe und Körper süchtig nach diesem Zustand der Überfordertheit, nach dieser merkwürdigen Energie, die überall britzelt und alles so existenziell erscheinen und uns locker mit fünf Stunden Schlaf pro Nacht auskommen lässt.
Wir, etwa 20 Musiker, Musikjournalisten und Veranstalter, waren mit der Bundeszentrale für politische Bildung auf Tour, Reisethema „Popkultur in Israel“, ein Novum für die Bundeszentrale und gleichermaßen ein Experiment für die meisten von uns, denn wer fährt sonst schon mit einer nachgeordneten Behörde des Innenministeriums und in Form einer organisierten Gruppenreise weg? Aber das dichte Reiseprogramm überzeugte, die Mischung aus Gesprächen und Konzerten schien zu stimmen, und die vorab verschickte „Teilnehmendenliste“ sprach eine schöne Sprache.
Erster Realitätskontakt in Tel Aviv beim Aussteigen aus dem Bus: ein Jüngling im Neopren-Anzug, das Bodyboard unterm Arm. Es ist fast Winter, die Temperaturanzeige sagt 30 Grad. Im Hotel ist der Aufzug heute, am Freitagabend, schon ein shabbat elevator und hält stoisch in jeder Etage, denn gläubige Juden dürfen am Sabbat keine Stromschalter betätigen. Die Promenade am Meer ist wuselig, die Menschen drängen sich in Cocktail- und Sushi-Bars. Für das Abschlusskonzert des deutsch-israelischen Austauschprojekts „ILanD“ braucht es guten Willen – die Band Ulman aus Leipzig, Stichwort Worldbeats und Ethnogroove, befiedelt das Vokaltrio Habanot Nechama, die 17 Hippies blechbläsern bumsfiedel gegen den Sänger der Band Boom Bam. Da haben die vor der Konzerthalle im Minirock herumstaksenden Ausgehmädchen mit russischem Migrationshintergrund noch mehr mit Popkultur in Israel zu tun.
In den nächsten Tagen laufen wir durch das Bauhausviertel mit seinen Fliesen um die Türen (Devisen durften jüdische Flüchtlinge in den Dreißigern nicht aus Deutschland mitnehmen, Fliesen und Türen aber schon), dann erklärt uns der Radiomoderator Dubi Lenz, seines Zeichens der israelische John Peel, die israelische Popmusik als ein von aus über hundert Ländern eingewanderten Juden bereitetes „slowly cooked Eintopfgericht“. Im „Gay Lesbian Bi Transgender Center“ beschreibt der Sicherheitsexperte der Zeitung Ha’aretz die israelische Gesellschaft als militaristisch, die Demokratie als zerbrechlich und die Presse als zensiert. Die Stadt ist voller Kneipen, Kiosks, Katzen und Granatapfelsaftstände. Bei der Gedenkveranstaltung für Jitzhak Rabin, der vor 14 Jahren ermordet wurde, spricht die ehemalige Außenministerin Zipi Livni, während sich Teenager in den blauen Einheitshemden der Arbeitspartei in großen Haufen zusammenkuscheln wie Welpen.
Am letzten Tag in Tel Aviv erzählt uns die Schriftstellerin Lizzie Doron ihre Geschichte. Außer ihr und ihrer Mutter hat niemand aus ihrer Familie die Schoa überlebt. In Tel Aviv wurden sie in einem Holocaust-Überlebendenviertel einquartiert, lange Jahre hörten sie durch die Blume nichts anderes als: Ihr wart schwach, habt euch abschlachten lassen, jetzt arbeitet erst mal an eurer neuen Identität als starke, wehrhafte Israelis. Doron ist nach der Schule begierig zur Armee gegangen, dann kam der Sechstagekrieg, und ihre Aufgabe war es, den Eltern im Überlebendenviertel die Nachricht vom Tod ihrer Kinder zu bringen. Als abends beim Straßeüberqueren die Ampel rot wird und jemand aus unserer Gruppe ruft „Achtung! Macht schneller!“, schämen wir uns. Die jungen Leute, mit denen wir bislang gesprochen haben, haben alle gesagt: Nein, wir haben kein Problem damit, dass ihr aus Deutschland kommt, warum auch, es ist lange her, ihr wart es ja nicht. Wir aber haben noch ein Problem damit. Ohne jede Frage.
Wir fahren durchs „Limbo Land“, einer irrwitzigen geopolitischen Blase zwischen grüner Linie und dem neuen Sicherheitszaun, den die Israelis hier deswegen nicht entlang der grünen Linie gebaut haben, um jüdische Siedlungen aus den vergangenen dreißig Jahren nicht dem Westjordanland-Jenseits hinter den Sperranlagen anheimfallen zu lassen. Palästinensische Arbeiter, die vom Ernten von Orangen und Avocados kommen, schlurfen mit gebeugtem Rücken durch den Checkpoint. Auf den Golanhöhen trinken wir mit Soldaten, also Abiturienten, inmitten der Minenfelder Kaffee im „Kofi Annan“, Hebräisch für „Café Wolke“. Hinter uns der See Genezareth, das einzige Süßwasserreservoir des Landes – der Wannsee ist größer –, vor uns der Libanon, hinter einem Zaun, Syrien rechts, hinter einem Zaun, alles in Kirschkernspuckweite.
Louise Kahn, sehr hippe Sängerin der Electroclash-Gruppe Terry Poison, spricht vom „Inseldenken“. Sie findet, die Israelis kultivierten dieses Gefühl zu sehr und sähen sich nicht als Teil der globalisierten Welt. Warum zum Beispiel spielten die Radios immer noch primär Musik mit hebräischen Texten und legten so alle Musiker auf einen winzigen Markt von fünf Millionen Konsumenten fest? Kahn ist sich sicher: „Die meisten hier haben sich identifiziert mit ihrer Opferrolle und dem Gedanken, dass uns sowieso alle anderen da draußen an den Kragen wollen.“ Sie will es anders machen, in der Welt draußen erfolgreich sein – und zieht bald nach L. A. um.
Davidstern aus Diamanten
Der Rapper Subliminal trägt einen mit Fake-Diamanten besetzten Davidstern um den Hals und sieht die Lage anders: „Wir sind umgeben von Feinden, die uns umbringen wollen, das ist so offensichtlich, wie kann die Welt nur so blind sein? Ich habe für mich begriffen: Ich muss ein Krieger sein. Die Familien unserer Eltern wurden schon umgebracht, im Holocaust, im Iran, in arabischen Ländern. Das darf nicht noch einmal passieren. Nicht mit mir. Da blase ich lieber die ganze Welt in die Luft.“
Subliminal ist der ökonomisch erfolgreichste Rapper Israels, er hat sich bei seinen amerikanischen Kollegen einiges an Habitus abgeschaut und tritt als „Musikbotschafter“ des Staates im Ausland auf. Wir treffen ihn zusammen mit MookE, einem Altgedienten im israelischen Hiphop, der uns als eine Art linker Gegenspieler zu Subliminal angekündigt wurde. Dieser MookE aber sagt nur nüchtern: „In jeder Stadt in Europa sehen wir Hakenkreuzschmierereien an den Wänden. Wir fühlen uns in die Ecke gedrängt.“ Und legt seinen Unterarm vor sich, auf dem ein frisches Tattoo prangt: der Schriftzug „Iron Lion Zion“.
In Ramallah begegnen wir dem Rapper Boikutt, der englisches Englisch spricht und in London studiert hat. Er ist wütend, auf eine hellwache, schwelende, harte Art. Weil er täglich Checkpoints passieren muss, nicht an den fünfzig Kilometer entfernten Strand darf und nicht den Flughafen in Tel Aviv benutzen darf, wenn er im Ausland einen Gig hat, sondern in einer zehnstündigen Aktion nach Amman in Jordanien muss. Niemals würde er mit einem jüdischen Israeli gemeinsam Musik machen, er spricht nur von „Kolonialherren“, nennt die israelische Politik „rassistisch“ und Israel einen „Apartheidsstaat“. Seine Band Ramallah Underground, die eigentlich relaxte elektronische Downbeat-Musik macht, hat auf ihrer Myspace-Seite unter „Einflüsse“ einen einzigen Eintrag: „Intifada 1 & 2“.
Eine Woche später in Jerusalem. Wieder geht gerade der Sabbat los, die Orthodoxen hetzen mit ihren Pelzmützen Richtung Klagemauer, die Christen rumpeln als wallfahrende Rollifahrergruppen die Via Dolorosa hinab und kaufen den Palästinensern Fliesen mit „Shalom!“-Gravuren ab. Chassidische Musiker erklären strahlend auf Jiddisch: „Chassidische Musik ist für machen Chassidim frehlach, das ist der Gang von die Sach.“ Aber als Frau kauft man sich doch lieber einen knöchellangen Rock, um in ihrem Viertel nicht angespuckt zu werden. Es ist wieder alles ein bisschen zu viel und so verdammt widersprüchlich.
Wir stehen dann lange vor einem Stand mit Souvenir-T-Shirts: Obama mit Palituch auf dem Kopf oder doch lieber das mit dem „Guns N’ Moses“-Aufdruck? Wir können uns nicht entscheiden.