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Archiv-Artikel

Zeigt her eure Füße!

SCHUHKAUF Was auf Kinderschuhen steht, stimmt meist nicht: Die Größen variieren

Das richtige Maß

■ Um die Größe von Kinderfüßen zu bestimmen, auf Pappe den Umriss des Fußes zeichnen. Am längsten Zeh einen Spielraum von 12 bis 17 Millimetern addieren. Passt die Schablone, sind die Schuhe lang genug.

■ Achtung: Die Größe des Kinderfußes nicht durch Daumendruck oder Fersentest messen. Das ist ungenau. Kinder zu fragen hilft nicht. Sie haben noch kein Gefühl dafür, wann ein Schuh passt.

VON JANET WEISHART

Früher war das so: Die Berlinerin Annett Kraft ließ die Füße ihrer Tochter von der Verkäuferin vermessen. „Der Messstab zeigte eine Schuhgröße, die Verkäuferin brachte drei Paar Schuhe, drückte am Ende noch mal von außen und sagte: ‚Der passt!‘ “, erzählt die zweifache Mutter. Ja, früher vertraute die 39-Jährige noch den Schuhgrößen der Hersteller. Bis sie merkte: „Meine Tochter bekam selbst von neuen Schuhen Blasen.“ Heute ist es darum so: Annett Kraft misst erst die Füße ihrer Tochter mit dem Innenschuhmesser in Millimetern, vergleicht dann die Schuhgrößen. So bemerkt sie gleich, dass dort, wo Größe 29 draufsteht, nur eine 28 drin ist.

Der österreichische Sportwissenschaftler Wieland Kinz fasst diese Erfahrung in Zahlen: „Mehr als 90 Prozent der Schuhe sind kürzer, als sie sein sollten. Bei unserer Studie trugen 69 Prozent der Kindergartenkinder zu kurze Straßenschuhe, 88 Prozent zu kurze Hausschuhe.“ Bei seinem aktuellen Test von Onlineshops waren die Innenlängen in neun von zehn Fällen zu kurz. Kinz ist europaweit ein Vorreiter in Sachen Kinderfußgesundheit. Bereits seit 2001 schaut er den Kleinen auf die Füße – unabhängig, finanziert von unterschiedlichen österreichischen Bundesministerien.

Seine Ergebnisse brachten die Schuhbranche in Aufruhr. Denn bis dahin war die Schuhgröße auf dem Karton unantastbar. Warum die Größen so stark variieren? Die Krux steckt im System. Zwar gilt europaweit in der Regel das alte französische Maß von 6,6 Millimeter Differenz pro Schuhgröße, aber: Die Hersteller müssen sich nicht an diese Norm halten.

Immerhin stehen Kinderschuhe seit dem österreichischen Vorstoß auch bei deutschen Universitäten und Herstellern im Fokus. Sie forschen meist zusammen. So vermaß das Sportinstitut der Universität Tübingen vor sechs Jahren 3.000 Kinderfüße mit dem Fazit: 48 Prozent trugen zu kleine, 9 Prozent zu große Schuhe. Nach der Diskussion über zu kleine Kinderschuhe maß die Universität Potsdam mit dem Deutschen Schuhinstitut und einem Hersteller bei über 20.000 Kinderfüßen bis zum Alter von 18 Jahren, dass wiederum fast die Hälfte mit zu großen Schuhen unterwegs war. Der Potsdamer Sportwissenschaftler Steffen Müller vermutet, dass viele Eltern Schuhe eher auf Zuwachs kaufen.

Kinz kritisiert, dass deutsche Forscher eben mit Herstellern im Boot sitzen, und hält dagegen: „Zu groß ist nicht schlimm, echt gesundheitsschädlich sind zu kleine Schuhe!“ Denn Kinder ziehen die Zehen meist klaglos an. Ihre Füße sind weich, das Nervensystem ist noch nicht genügend ausgereift, um den ungesunden Druck zu realisieren. Kinz: „Oft krümmt sich dann der große Zeh nach innen und reibt. Vermutlich ändern sich die Bewegungsmuster dieser Kinder. Ein Einfluss auf Sprunggelenk, Kniegelenk und Wirbelsäule wird ebenfalls vermutet.“ Bayerns Studie „Kinderfüße auf dem Prüfstand“ von 2007 erbrachte Ernüchterndes: Jedes fünfte Kind hatte Schwielen, Druckstellen, Narben und Nagelpilz.

Um Schäden zu vermeiden, rät Experte Kinz: „Messen Sie die Füße der Kinder in Millimetern! Oder fertigen Sie eine Pappschablone vom Kinderfuß an und geben Sie je 12 bis 17 Millimeter zu.“ Damit sollten Eltern ins Schuhgeschäft gehen und diese Innenlänge verlangen. „Kein Daumendrücken, kein Verlassen auf die Berufserfahrung der Verkäufer!“, fordert Kinz.

Auch der Innenschuhmesser leistet laut Kinz gute Dienste. Er misst den Kinderfuß meist automatisch mit einer Zugabe von 12 Millimetern. „Wer mit diesen Methoden einen Schuh kauft, hat erst einmal zwei Monate Ruhe. Denn wir haben festgestellt, dass es die viel zitierten Wachstumsschübe von eins bis zehn Jahren nicht gibt“, erzählt der Kinderfußfachmann. Pro Monat wachsen Füße bei Kindern von ein bis drei Jahren um etwa 1,5 Millimeter, von drei bis sechs Jahren um zirka 1 Millimeter und von sechs bis zehn Jahren um rund 0,8 Millimeter.

Jeder neunte Kinderschuh ist kürzer, als er laut Größenmaß sein sollte

Wissenschaftler Steffen Müller rät beim Schuhkauf außerdem zum „Flexitest“: „Im Vorderfußbereich sollte ein Schuh relativ flexibel sein.“ Denn die Fußstrukturen und das Bewegungsmuster sei bei Kindern noch nicht ganz ausgebildet, da darf ein Schuh nicht rigide wie eine Holzpantine reagieren. An der Ferse sollte er dagegen eher stabil sein.

Weil das Thema so umfangreich ist, bieten Sportwissenschaftler und Orthopäden der Universität Tübingen ab 2010 wieder Orthopädie-Sprechstunden für Eltern an. Sportwissenschaftler Stefan Grau erläutert: „Wir vermessen und scannen die Kinderfüße, machen Druckbelastungstests. Ein Orthopäde wertet die Daten dann aus.“ Aus vorangegangenen Elternsprechstunden weiß er: „Die Hälfte der Kinder wird wohl mit Problemen kommen, die andere Hälfte präventiv.“ Bei Letzteren vermuten Eltern oft Knick-, Spreiz-, Senk- oder Plattfüße und sind beunruhigt. Ihnen kann Grau die Sorge etwas nehmen: „Fußdeformationen sind im Vorschulalter völlig normal, wachsen sich meist von selbst aus. Nur wenn Kinder Schmerzen haben, gibt es einen Grund, Einlagen zu empfehlen. Zuvor befürworte ich eine kräftigende Physiotherapie.“

Und der Traum von den universellen Schuhgrößen? Kinz schmunzelt: „Auf den Millimeter will sich keiner festlegen.“ Beim sogenannten WMS-System versuchen zwar sieben Hersteller unter Schirmherrschaft des Deutschen Schuhinstituts (DSI) die Schuhgrößen nach Vorgaben zu produzieren. Aber Millimeterangaben für Schuhe lehnen auch sie ab. „Ein bestehendes Maßsystem umzukrempeln ist schwierig“, sagt DSI-Sprecherin Claudia Schulz. Die bestehende WMS-Messung – per Schieber bis zum großen Zeh zu fahren – ist aber ungenau. Kinz erklärt: „Wie beim Daumendrucktest besteht die Gefahr, dass sich Kinderzehen reflexartig zurückziehen.“ Grau sagt: „Das Beste ist für Kinder sowieso, barfuß zu laufen oder mit Stoppersocken. Das regt Muskulatur und Nerven an und übertrifft jeden Schuh.“