: Die Ruhe nach dem Strahl
Die französische Regierung hat aufgrund der Vorstadt-Krawalle den Ausnahmezustand verhängt. Statt „durchkärchern“ heißt nun die Devise „Ausgangssperre“. Taugt dies als Akt der Beruhigung?
VON JAN FEDDERSENUND MARTIN REICHERT
Ruhe und Ordnung zu halten ist nicht nur erste Bürgerpflicht, sondern im präzisesten Sinne die erste Pflicht eines Staates, gleich, ob demokratisch oder totalitär verfasst: Nach der zwölften Krawallnacht in Folge hat Frankreichs konservative Regierung den Ausnahmezustand verhängt. Laut Innenminister Nicolas Sarkozy können damit auf Grundlage des Notstandsgesetzes von 1955 Ausgangssperren in den betroffenen Gebieten verhängt werden.
Sarkozy, der in seiner ersten, öffentlich geäußerten Fantasie am liebsten zu einem leistungsstarken Hochdruckreiniger der schwäbischen Firma Kärcher greifen wollte, um den schwelenden Unruhen in den migrantisch geprägten Armutsvierteln Herr zu werden, greift nun also doch lieber zu den bewährten Mitteln des Rechtsstaates: einer vorübergehenden, punktuellen Einschränkung der Bürgerrechte, um die Ordnung wiederherzustellen.
Ein starkes Signal
Ein starkes Signal in einem Land, dessen Staatsbürger noch das Anrecht des Überquerens eines Zebrastreifens bei roter Ampel aus der Tradition des Sturms auf die Bastille ableiten. Die Auswirkungen werden die Bürger in den Unruhevierteln zu spüren bekommen – selbst der Spaziergang zum nächsten Zigarettenautomaten wird riskant werden. Andererseits ist der französischen Regierung signalisiert worden, dass dem Gros der Franzosen die Unruhen mittlerweile schwer auf die Nerven gehen.
Insofern ist auch begreiflich, weshalb Sarkozys gehässiges Verdikt, er möchte die unruhigen Quartiere mal tüchtig mit einem Hochdruckstrahl durchpüstern, keineswegs auf allfällige Empörung stieß. Man will die soziale Lage dort gebessert sehen – aber ein Flächenbrand als Rund-um-die-Uhr-Happening macht auch Angst, zumal die Feuer auch kommunitäre Einrichtungen wie Schulen oder Horte betrafen.
Der Wunsch, alles mal gründlich durchzukärchern, entspricht der totalitären Fantasie, sich mit einer „Ruck“-artigen Säuberung von allem Unerwünschte, Unreinen, Störenden, Infektiösen zu befreien: von Moosgeflechten auf dem Balkon, Pilzbefall in der Badewanne, Trotzkisten, Juden, Schwulen. Dabei müsste doch auch ein Politiker wie Sarkozy wissen, was gewöhnliche Besucher von Baumärkten – wo es diese Gerätschaften käuflich zu erwerben gibt – lebenserfahren intus haben: Nach dem Kärchern ist vor dem Kärchern. Nach dem Autowaschen ist vor der Autowäsche; nach dem Duschen ist vor dem Duschen: ein im Alltag geronnenes Spannungsverhältnis, das es auszuhalten gilt. Und gesellschaftlich gilt es, das „Andere“ auszuhalten, man muss sich mit ihm arrangieren – und es längerfristig integrieren.
Die Fantasie, zum Kärcher zu greifen, entspricht genau jener ohnmächtigen, präpubertären Wut der Jugendlichen in den Pariser Vorstädten, sich der unbequemen, benachteiligenden Verhältnisse von einem Tag auf den anderen zu entledigen. Ein Rohr in der Hand halten, aus dem ein alles vernichtender, kompressionsgestählter Hochdruckstrahl schießt – eine männliche Allmachtsfantasie, äquivalent zu den juvenilen Potenzallüren, mit der Dreizehnjährige sich ihrer selbst zu vergewissern suchen: Ich kann was!, Ich will was!, Ich lass mir nichts mehr bieten!
Dass ein gesellschaftliches Feuer – symbolisch gesprochen im Sinne der eben jugendlichen Straßenkämpfer in den Unruhevierteln vor Paris – nicht mit einer Show im Breitwandformat gelöscht werden kann, versteht sich für Erwachsene von selbst: Jugendlichen bleibt nichts, als eben diesen Zusammenhang zu ignorieren. Denn wüssten sie um ihn, wäre der halbe Spaß vorbei. Mehr oder weniger organisierte, aber perfekt inszenierte Unruhe mit nur begrenztem Sinn als Antwort auf die puristischen Anwandlungen eines Innenministers, der nie auch nur näherungsweise mit den Verhältnissen in Clichy-sous-Bois in Berührung kommen musste: Das ist kaum zu toppen, selbst mit einem Ausnahmezustand nicht. Der freilich macht den Kick nur edler, selbstglaubwürdiger.
Ein Lehrstück für alle
Es liegt nur an der französischen Regierung selbst, ob der von ihr verhängte Ausnahmezustand ein Akt der Beruhigung ist, um einen Prozess der Moderation (und Verbesserung der Verhältnisse der Unruhigen) zu ermöglichen – oder ob er der Auftakt eines rechtsstaatlich nicht mehr bedeckten Bürgerkriegs ist, der nur von Furcht und Schrecken, Einschränkung und Zensur lebt: ein Lehrstück für alle demokratischen Gesellschaften. Live und in Farbe.