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Archiv-Artikel

Die verletzliche Königin

Der Eiche geht es schlecht, sagt der Waldzustandsbericht. Schuld ist der Mensch. Einst baute er Schiffe aus ihr, heute vergiftet er sie. Er weiß nicht, was er an ihr hat: Die Eiche ist verschwenderisch, gastfreundlich und manchmal unlogisch. Eine Hommage

von ULRICH SCHULTE

„Und gewiß! Wer sein Lebenslang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müßte ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter luftigen Birken sich erginge.“ (Johann Wolfgang Goethe, 1749 – 1832)

Das Wesen der Eiche ist verschwenderisch und gastfreundlich. Sie ist empfindlich, hilfsbedürftig und manchmal etwas unlogisch. Deshalb ist es falsch, dass sie als Sinnbild des Urdeutschen herhalten muss. Der Eiche, der Königin des Waldes, geht es nicht gut, das ist im Waldzustandsbericht nachzulesen (siehe Kasten). Es ist höchste Zeit, sie angemessen zu würdigen.

Die Eichen, die in und um Berlin wachsen, sind Pioniere unter ihresgleichen. Die Hauptstadt liegt mitten in der „märkischen Streusandbüchse“. Eigentlich meidet die Eiche Sandböden. Dennoch stellt sie gut ein Viertel der Berliner Wälder. Sie nimmt die Unbill klaglos auf sich. Wir vergelten es ihr, indem wir ihr das Leben schwer machen.

Im frühen Mittelalter bedeckte Wald noch große Flächen der Region, die Eiche war in ganz Mitteleuropa ein oft gesehener Baum. Leider auch ein allzu gern gesehener. Denn die Menschen liebten die heimischen Stiel- und Traubeneichen, gerade weil sie als extrem harte Gesellen gelten. Ob als ergiebiges Heizmittel, als Planke in Schiffen, ob als Stütze im Kohlestollen oder später als Eisenbahnschwelle – Eichenholz tat seinen Dienst. Mit verheerenden Folgen für den Bestand.

Die Dimension des Einschlags illustriert der Mühlendamm. Das Bauwerk staute die Spree ab 1298 zwischen Berlin und Spandau. Als der Damm nach mehrfachen Ausbauten Ende des neunzehnten Jahrhunderts abgerissen wurde, zogen die Arbeiter angeblich 40.000 Eichen- und Kiefernstämme aus dem Wasser. Die Folge der Abholzung zeigt sich heute in Namen wie Wuhlheide, Jungfernheide oder Köllnische Heide. Ein preußischer Forstinspektor beschrieb das Berliner Umland einst so: Es fände sich kein Baum, der hoch genug sei, um den zuständigen Förster daran aufzuknüpfen. Kurz: Der Mensch ist die Geißel der Eiche.

Während die bescheidene Kiefer nach dem Kahlschlag schnell wieder Wurzeln fasste, hat die Eiche bis heute zu kämpfen. Sie lebt von der Hand in den Mund. „Wenn ein extrem trockener Sommer wie 2003 dazwischenkommt, hat der Eichenbestand kaum Reserven, um sich zu wehren“, sagt Elmar Kilz, der Leiter des Forstamtes Grunewald. In Berlin sind 79 Prozent der Eichen erkennbar geschädigt, in Brandenburg sind es 40 Prozent. Die Folgen des Eichensterbens Mitte der 80er-Jahre können Experten wie er heute noch im Wald nachweisen, jetzt trifft sie der nächste Schlag. Die Eiche vergisst nicht.

Aber wie kann Trockenheit einen so kräftigen Baum aus der Bahn werfen? Ganz einfach, die Eiche ist kein besonders effektiver Baumeister. Sie verlegt ihre Wasserleitungen jedes Jahr aufs neue, nur in der äußersten Holzschicht unter der Borke bildet sie im Frühjahr Transportröhren. Die Kiefer wirtschaftet schlauer, sie kann zur Not auch alte Leitungen in der Stammmitte in Betrieb nehmen. Ein Supersommer-Jahr wie 2003 setzt bei der Eiche aber eine fatale Spirale in Gang: wenig Holzproduktion, schmaler Jahresring, wenige Leitungen, wenig Nährstofftransport, wenig Holzproduktion. Eine Mär ist, dass Bäume sich ersatzweise aus dem Grundwasser bedienen können: Die Eiche breitet ihr Wurzelnetz so weit wie die Krone aus, es reicht aber nur drei Meter tief. Im Grunewald stößt man erst acht Meter unter der Erde auf Wasser, die Wasserwerke der Hauptstadt sind durstig.

Regen ist das Lebenselixier. Der aktuelle Sommer war nass, doch ausgerechnet im Mai fiel kaum Regen. „Wir hätten uns mehr Erholung erhofft“, sagt Förster Kilz. Zwar sprossen wie immer Blätter, doch die Bäume bildeten kaum feine Zweige aus. Während eine gesunde Eiche wie die grüne Faust eines Riesen in den Himmel ragt, wachsen die Blätter beim angeschlagenen Baum direkt an den tragenden Ästen. Für die fein verzweigte Faust reicht seine Kraft nicht, nur für gekrümmte Finger. In Berlin droht dies die Regel zu werden.

Dabei wird der Eiche auch ihr gastfreundlicher Charakter zum Verhängnis. Sie bietet rund 600 Schädlingen eine Heimstatt. Absurd daran ist, dass ausgerechnet ihre Stärke sie zum Paradies für Gesindel wie Mehltau, Buchenspringrüssler und Frostspanner macht. Ein Eichenstumpf zersetzt sich so langsam, dass er ganze Generationen von Insekten glücklich macht – im Laufe der Zeit konnten sich daher viele Arten an die Eiche anpassen.

Der Mensch arbeitet nach wie vor gegen die Eiche. „Zufahrtstraßen wie Avus oder Heerstraße führen mitten durch den Wald. Als Folge entstehen direkte Ozonschäden“, sagt Kilz. Eine Eiche atmet durch Millionen mikroskopisch kleiner Münder Kohlendioxid ein und Sauerstoff aus. Das tun andere Bäume auch, doch die Eiche hat eine größere Klappe. Ihre Spaltöffnungen lassen voluminöse, aggressive Ozonmoleküle passieren, die bei Kiefern draußenbleiben. Wir blasen der Eiche Gift in die Blätter, sie produziert – einmal 100 Jahre alt geworden – so viel Sauerstoff, dass 11 Menschen atmen können.

Muss man sich ernsthaft Sorgen machen um die Eiche? „So weit sind wir längst nicht. Eichen sind enorm zäh“, sagt Kilz. Als Sumpfeiche lässt sie sich klaglos in nordamerikanischen Flusstälern überfluten, die Korkeiche gedeiht in Algerien.

Im Tiergarten oder in der Hasenheide wirft also gerade eine wahre Kosmopolitin die letzten Blätter ab. Bei Stress reagiert sie verschnupft wie ein Mensch, sie ist verletzlich. Startet ein Pilz seinen Angriff, kann sie erstickenden Schleim absondern. In einem staubtrockenen Sommer, in höchster Not, wirft die Eiche kleine Zweige mit samt ihrer Blätterbüschel ab. Förster sagen, sie minimiert ihre Verdunstung, doch in Wirklichkeit offenbart sie ihr verschwenderisches Wesen. Die Eiche opfert sich auf, sie bereitet ihren Nachkommen Humus und schert sich nicht ums Morgen.

Einen weniger deutschen Baum als die Eiche gibt es daher nicht. Stünden ihr die Deutschen wirklich nahe, müsste sich der Finanzminister in spe um die Binnennachfrage nicht sorgen – trotz Wirtschaftskrise.