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Archiv-Artikel

Die Macht der Sachverständigen

Wer durch Arbeit krank wird, hat eigentlich Anspruch auf eine Rente. Tatsächlich bekommen aber nur wenige der kaputten Malocher ihr Geld. Denn: Umstrittene Gutachter reden die Gesundheitsprobleme der Betroffenen immer wieder klein

„Das Gutachten verfälscht die Tatsachen zu meinen Lasten“

VON BRITTA BARLAGE

Als „Gutachterunwesen“ bezeichnen Berufskranke das Gutachterwesen in Deutschland. Warum, das zeigen Fälle wie der von Inge Kroth. Die Patientin ist davon überzeugt, dass sie durch die Lösemittel an ihrem Arbeitsplatz, einer Textilreinigung, krank wurde. Mehrere Ärzte bestätigten das. Allein, das medizinische Gutachten von Professor Gerhard Lehnert vom Institut für Arbeitsmedizin Erlangen kommt zu einem anderen Schluss. Die Folge: Inge Kroths Rente von der Berufsgenossenschaft wurde abgelehnt. Lehnert ist unter Chemiekranken bekannt dafür, Berufskrankheiten klein zu reden.

So enthält sein Gutachten über Kroths Gesundheitszustand seltsame Unstimmigkeiten. Ein Beispiel: Ihre Bauchspeicheldrüse war mehrfach entzündet. Der Arzt an Lehnerts Institut konnte das Organ aber nicht aufnehmen, erinnert sich Kroth. Auf dem Ultraschallbild, das dort gemacht und ihr zugesandt wurde, ist denn auch keine Bauchspeicheldrüse zu erkennen. Das bestätigte ihr auch der Hausarzt.

Für die Gutachter war das aber offenbar gar kein Problem: In ihrem Bericht zum Ultraschall schreiben sie trotzdem über die Bauchspeicheldrüse, und zwar: „Organ nicht vergrößert. Kein Hinweis für Entzündung“.

Die Gutachter konstatierten außerdem, dass es an Kroths Arbeitsplatz nur eine geringe Lösemittelkonzentration gegeben habe. Sie beziehen sich dabei auf einen Wert, der bei der gefilterten und nach außen geleiteten Abluft der Textilreinigungsmaschine gemessen wurde. Mit der Raumluft, die Inge Kroth einatmete, hat er also gar nichts zu tun. In ihr wurden aber erheblich höhere Belastungen gemessen.

Inge Kroth sagt: „Das Gutachten verfälscht die Tatsachen zu meinen Lasten.“ Die Kranke kämpft weiter für ihre Ansprüche. Sie listete die Punkte ihrer Kritik auf und reichte sie beim Sozialgericht ein. Doch das Gericht beachtete ihre Argumente nicht – und lehnte die Rente ab. Das Lehnert’sche Gutachten, schon 1999 erstellt, bleibt ein Hindernis.

Professor Lehnert wollte sich auf Anfrage der taz nicht zu den Unstimmigkeiten äußern. Er begründete dies mit der ärztlichen Schweigepflicht und dem Datenschutz. Er schrieb aber: Er glaube nicht, „dass medizinische Laien fachkompetent sind, ärztliche wie rechtliche Entscheidungen in Frage zu stellen“.

Medizinische Laien sind die meisten Menschen, die am Arbeitsplatz krank werden. Oft sind es einfache Arbeiter, in der Industrie oder im Handwerk. In nur etwa 5 Prozent der Fälle bekommen die Betroffenen tatsächlich eine Berufskrankheitenrente. Viele scheitern an den dubiosen medizinischen Gutachten.

Nur wenige kämpfen wie Inge Kroth – oder wie die Familie Lingenau-Höntzsch. Klaus, der Vater der Familie, war Chemiearbeiter. Er wurde schon mit 36 Jahren berufsunfähig. Heute, mit 49, ist er aufgrund schwerer Nervenschäden pflegebedürftig. Doch auch in diesem Fall sorgte eine Expertise von Professor Lehnert zumindest mit dafür, dass die Familie ihre Rechte immer wieder umsonst einklagt. Lehnerts Aussagen haben Gewicht.

Dabei ist der Erlanger Professor umstritten. Zahlreiche Medien, darunter Spiegel und Ökotest, berichteten in der Vergangenheit schon kritisch über den Arbeitsmediziner. Tenor: Er stehe der chemischen Industrie und den – durch die Arbeitgeber finanzierten – Berufsgenossenschaften nahe.

Kritiker werfen ihm vor, Gelder von der chemischen Industrie erhalten und Gefälligkeitsgutachten erstellt zu haben. Otmar Wassermann, emeritierter Professor für Toxikologie, schreibt in seinem Buch „Käufliche Wissenschaft“ Lehnert sei auch ein „Verharmloser“ des gefährlichen Holzschutzmittels Pentachlorphenol. Lehnert äußerte sich auf Anfrage der taz nicht zu den Vorwürfen.

Angesichts der Kritik verwundert, dass die Gerichte die Gutachten Lehnerts nicht stärker hinterfragen. Doch der Professor, der bis 2000 dem Erlanger Institut für Arbeitsmedizin vorstand und heute emeritiert ist, zählt zu den Größen in der Arbeitsmedizin: Er war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin. Er war Mitglied in der MAK-Kommission, die Grenzwerte für gefährliche Stoffe am Arbeitsplatz festlegt. Seine vielfältigen Posten machen ihn glaubwürdig.

Die Betroffenen sind die Leid Tragenden. Ihren Verbände machen vergeblich darauf aufmerksam, dass Lehnert ein Repräsentant des für die Kranken nachteiligen Gutachterwesens ist. Der Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter, Abekra, spricht von der Erlanger Schule, die ein „Gutachterunwesen“ mit hervorgebracht habe.

Tatsächlich waren am Lehrstuhl in Erlangen viele der Gutachter schon einmal tätig, die heute der Industrie und den Berufsgenossenschaften besonders nahe stehen sollen. Mittlerweile besetzen sie aber leitende Positionen an anderen Universitäten oder Instituten. So werde die Erlanger Schule der Negativ-Begutachtung in Deutschland etabliert, sagt Peter Röder von der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IkU). Röder weiß: „Die Berufsgenossenschaften führen Listen von ihnen genehmen Gutachtern.“ Und die Sozialgerichte würden die gelisteten Fachleute fast immer als Gerichtsgutachter bestimmen. Angela Vogel von Abekra bestätigt: „Die Befangenheitsanträge gegen diese Gutachter lehnen die Gerichte fast immer ab – auch wenn sie als Beratungsärzte der Berufsgenossenschaft, also einer Prozesspartei, bekannt sind.“

Die Betroffenenverbände fordern nun, dass die Gutachter ihre Nebeneinkünfte offen legen sollen. Nur so kann ihrer Ansicht nach „das Kartell aus Gutachtern, Berufsgenossenschaften, Industrie und Gerichten“ zerschlagen werden.

Noch können die Sachverständigen den Berufsgenossenschaften kräftig helfen, alle Ansprüche der Kranken abzuwehren. Ein gut bekanntes Beispiel: Berufskrankheiten durch giftige Lösemittel. Kopfschmerzen, Husten, Nervenschäden – die Symptome können Jahre, nachdem die Dämpfe eingeatmet wurden, immer heftiger werden. Das ist längst erwiesen. Dennoch stritten Arbeitsmediziner diesen Zusammenhang jahrelang ab. Im Gegenteil behaupteten sie: Lösemittel kämen als Ursache nicht in Frage, wenn ein Arbeiter immer kranker werde. Das schlug sich selbst in einem Merkblatt der Bundesregierung über die Berufskrankheit nieder. Seit zehn Monaten ist das zwar berichtigt.

Ein Report zur Berufskrankheit, der auch die nicht mehr haltbare Behauptung enthielt, wird aber immer noch überarbeitet. Die Aktualisierung ist überfällig. Einer der Autoren des Reports ist Professor Gerhard Triebig, der derzeit in Heidelberg lehrt. Früher war auch er in Erlangen tätig.

Den Vorwurf, den Report gefälscht zu haben, weist Triebig von sich. Der taz schrieb er: „Von einer ‚Verfälschung‘ der Resultate zu sprechen entbehrt einer sachlichen Grundlage.“ Er belegt das mit Textstellen aus wissenschaftlichen Studien. Doch wäre das der Kenntnisstand, hätte das amtliche Merkblatt sicherlich nicht umgeschrieben werden müssen. IKU-Mann Röder sagt: „Die einschlägigen Gutachter suchen gezielt Beweise für eine wissenschaftlich nicht haltbare Theorie.“

Dabei hätte sich längst etwas ändern können: Rot-Grün wollte das Gutachterwesen schon 2000 reformieren. Die Koalition forderte im Deutschen Bundestag, dass die Sachverständigen „unabhängig von Krankenkassen, Berufsgenossenschaften sowie der Industrie“ sein müssten (Bundestagsdrucksache 14/2767).

Doch noch immer bekommen viel zu wenige Betroffene eine gerechte Entschädigung. Das ist aber nicht das Einzige, was die Kranken antreibt. Inge Kroth fühlt sich seit Jahren wie eine Simulantin behandelt. Sie sagt: „Es geht auch darum, den Menschen die Würde wiederzugeben.“

www.abekra.de, www.bk1317.de