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Archiv-Artikel

Alles bröckelte

KULISSEN Ruinen sind schön. Sie stehen für Jugend, Sehnsucht und Kaputtness. Eine Erinnerung

Was kümmern einen die alten Ruinen, wenn man doch neue erzeugen kann?

VON AMBROS WAIBEL

Die Italiener haben wirklich vor nichts Respekt – nicht mal vor ihrem großartigen Erbe. So schien es mir, als ich im letzten Jahr die Geschehnisse um die Villa Adriana verfolgte, eines der Wunder- und wunderlichsten Werke der römischen Antike.

Findige Politiker in und um Rom hatten gleich zwei barbarische Ideen: In unmittelbarer Nähe der Palastanlage des Philosophenkaisers Hadrian sollte eine Mülldeponie entstehen – und dann auch noch eine riesige Wohnsiedlung. Die Unesco fand das gar nicht lustig und setzte Italien eine Frist bis 2014, um das Vorhaben zu erläutern. Die Experten in New York hegen nämlich erhebliche Zweifel, ob Stahlbeton und malerisch verfallenes Altertum sich so verbinden lassen, dass die Villa Hadriana auch in Zukunft noch den Ehrentitel „Erbe der Menschheit“ tragen darf.

Die Villa Adriana ist ein wichtiger Bau nicht nur für die europäische Garten- und Herrschaftsarchitektur, sondern auch für mich. Als wir in der 12. Klasse mit dem Lateinleistungskurs nach Rom fuhren, kam ich dort zu mir selbst. Nach all der losgelösten Schmuserei und Sauferei ergriff uns hier die Idee, dass wir eigentlich Melancholiker waren.

Wir entdeckten die dunkle Seite der Jugend, das Leiden an einer Welt, die wir nicht gemacht hatten, und den Wunsch, ihr zu entfliehen. Alles war vergänglich, alles bröckelte, die Schönheit lag in der Kaputtness, und ein warmer Wind wiegte das hohe Gras, in dem wir zwischen den Ruinen lagen. „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und sprach mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa“, rezitierten wir die „Hamletmaschine“ unseres Helden Heiner Müller, dessen Pathos wir begierig aufgesogen hatten.

„Die Ruinen von Europa“ schienen uns unglaublich weit weg und in unserer Endzeitstimmung gleichzeitig verlockend nah. Sie waren ein Sehnsuchtsort, obwohl ich als Kind noch auf den Trümmerhügeln des Weltkriegs verstecken gespielt und Ski fahren gelernt hatte. In den 1980er Jahren war in Westdeutschland die Erinnerung an Schutt und Schuld gerade abschließend begrünt, Ruinen gab es nur in Beirut. Das ganze Land glitzerte in Stahl und Glas, und erst als wir lernen mussten, dass es nur das halbe Land war, verwandelten sich die Ruinen von Literatur in Realität, wir fuhren in den Osten und verstanden, dass Heiner Müller keine Visionen gehabt, sondern einfach beschrieben hatte, was er vom Küchenfenster aus sah: Was war die DDR, wenn nicht eine einzige Ruine mit original Einschusslöchern? Der Ort, an dem die Zeit seit 1945 stillstand (in der zentralbeheizten Platte wohnten wir im Westen selber, auch wenn wir sie anders nannten)?

Ruinen sind Kulissen, sind Schauplätze von Projektionen, solange man nicht in einen Krieg gerät wie das Gemetzel unter Nachbarn in Jugoslawien und aus heiterem Himmel vor den Trümmern seines Hauses und seiner Existenz steht.

Die Ruinen kamen nach Europa zurück, und sie sind seitdem geblieben, aktuell in den sogenannten Krisenländern der südlichen EU, während in der boomenden ehemaligen Reichshauptstadt die letzten Kriegslücken gierig gefüllt werden. „Ekel ist ein Privileg“, lautet ein anderer Kernsatz Müllers: So lassen sich aus dem Norden die Geisterstädte der Immobilienspekulation in Spanien durchaus mit Verachtung oder ästhetischem Grusel betrachten wie die künstlichen Ruinen früherer Jahrhunderte. Wer hier wohnen oder in seine Rente investieren wollte, wird den Anblick der Häuserskelette kaum bizarr finden können.

Die echte Ruine zeigt ein Versagen an – vor der Geschichte oder vor der Natur. Die künstliche Ruine tröstet uns, sie sagt letztlich, dass alles Abstrampeln eitel ist. Vor ihr finden wir Ruhe und Frieden, worin wir bei Todesstrafe nicht verharren dürfen: Wir sollen, solange wir leben wollen, weiter.

Wir müssten schon reich werden, um esoterisch sein zu dürfen. Wir müssten schon akzeptieren, arm zu sein, um in und mit Ruinen leben zu können, Zahnruinen inklusive, die zu präsentieren sich nur noch Obdachlose oder alte Männer in unkündbarer Stellung leisten können.

Die Villa Adriana war eine Art Themenpark für den Kaiser, sollte das Römische Reich in nuce abbilden, war auf ihre Art schon ein sentimentaler Nachruf auf die Epoche. Und wenn auch eine kritische Öffentlichkeit in Italien die Mülldeponie neben diesem Rückzugsort verhindert hat und selbst wenn die Unesco genug Druck aufbauen kann, um die urbanen Scheußlichkeiten fernzuhalten, so verfällt die Villa doch wie Pompeji verfällt: Was kümmern einen die alten Ruinen, wenn man neue erzeugen kann? In einem Abhörprotokoll der italienischen Polizei habe ich einmal gelesen, was Mafiosi sagen, die im Meer vor ihrer Haustür hochtoxischen Müll illegal entsorgen: Mit dem Geld, das wir damit verdienen, sagen sie, kaufen wir uns anderswo ein neues Meer.