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Archiv-Artikel

Das Schweigen der Bauern

Der isländische Autor Hallgrímur Helgason, der jetzt im Literaturhaus liest, rechnet in „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“ mit Übervater Halldór Laxness ab. Zugleich ist der Roman eine düstere Saga, hinterfangen von poetologischen Zweifeln

von Petra Schellen

Darf ein Autor direkt mit seinen Figuren kommunizieren? Ihnen nachträglich ein anderes Schicksal andichten als das, das sich aus der Logik des bislang Geschriebenen ergab? Und wie definiert sich die viel beschworene „Stringenz“ eines Romans oder Charakters? Einar J. Grímsson, Protagonist in Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein, dem jüngsten Roman des 1959 geborenen Isländers Hallgrímur Helgason, kann sich nicht entscheiden: Einerseits weiß er, der plötzlich in einem seiner Romane aus den 50ern erwacht, dass er selbstredend den Nobelpreis verdient. Andererseits ist es genau diese haarfein nachgezeichnete Eitelkeit, mit der Helgason, jetzt im Literaturhaus zu Gast, den Leser auf etlichen der 615 Seiten des Romans in den Wahnsinn treibt.

Wenig überraschend auch, dass der Protagonist Islands berühmtestem Autor Halldór Laxness gleicht. Wen wundert es da, dass Helgason in seine skurrile Geschichte vom isländischen Hochland poetologische Reflexionen der Hauptfigur flicht: Muss ein Autor seinen Figuren helfen, wenn sich deren Geschichte zu verselbständigen droht? Kann, darf er die Vergewaltigung seiner Lieblingsfigur verhindern? Was bedeutet „Authentizität“?

Gewalt, Stumpfheit und Langeweile prägen den Alltag im „Höllental“, dem Schauplatz des Romans; dem Getümmel antiker Götter, auch den Szenarien des Landsmanns Einar Kárasson gleicht Helgasons Personnage um den Bauern Hrólfur, der wenig spricht und nur das Wohl der Schafe kennt.

Gleich einer Island Saga von Tragik durchwoben ist die Geschichte außerdem: Wie eine Wolke hängt begangenes Unrecht über dem Hof, der darob vergehen muss. Zwangsläufig? Grímsson ist nicht sicher und ironisiert sie durchaus, die Bräuche der Hochlandbewohner: „Es war eine alte Sitte in Island, dass ein Bauer, der sein Land aufgab, in die Scheune pinkelte. Damit wurde das Land in nächster Zukunft unbewohnbar und brachte regenreiche Sommer für die nächsten dreitausend Jahre.“

Unpraktisch nur, dass er selbst – nach dem eigenen Tod, wie ihm scheint – in diese Szenerie hineingeraten ist; gar wenig wollen seine weichen Lederschuhe zu einer Gegend passen, in der es sich „nicht einmal für das Gras lohnte, sich aufzurichten“. Schockierend auch, dass sein Ruhm hier oben gar nichts gilt.

Einen lakonischen, zwischen Illusion und Realität wandelnden Roman hat Helgason, der nicht mit Hieben auf die literarische Avantgarde des 20. Jahrhunderts spart, geschaffen; ein Werk, das die Grenze zwischen Schöpfung und Erleiden der (Roman-)Welt verwischt: „Ich sah Wolken am Horizont aufziehen – das Ende des Kapitels nahte“, sagt der Protagonist süffisant angesichts der so schlichten eigenen Stilwerkzeuge. Andererseits: Wie hat er, der seine Mitmenschen bloß als Rohstoff für seine Romane nutzte, es je geschafft, seinen Figuren Leben einzuhauchen?

Eine Selbstbefragung, die – stellvertretend für den unantastbaren Laxness? – erfrischend ehrlich ist. Und doch verharrt der Roman nicht beim Zwittertum zwischen Saga und Abrechnung: Ganz subtil beginnt der Protagonist zugleich die Schlüssigkeit von Assoziationen auszuhöhlen. Etwa, wenn er das Recht von Wörtern anzweifelt, bestimmte, im gesellschaftlichen Bewusstsein festgezurrte Bilder zu erzeugen: Wer legt fest, dass ein Goldregenpfeifer zum Frühling gehört; wo steht geschrieben, dass die Jahreszahl 1952 bestimmte Ereignisse vor das innere Auge hebt? Wer konstruiert – auch vergangene – Realität? Hat man es sich eventuell sehr bequem gemacht in den Bildern, die Autoren und Politiker einmal gezeichnet haben? Nebulöse Fragen allesamt. Und wer weiß: Vielleicht sind Bäume eigentlich blau und unsere Augen-Innenwand hat das längst bemerkt. Wir selbst, gehindert durch des Hirns gestrenge Auswahlmechanismen, aber natürlich nicht.

Hallgrímur Helgason: „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“. Stuttgart 2005, 615 S., 24,50 Euro. Lesung: Mi, 16. 11., 20.30 Uhr, Literaturhaus