: Fünf Säulen und ein Dreiecksgiebel
DIE HUNDERTJÄHRIGEN Das Theater lebt, obwohl es in seinen baulichen Anfängen um 1900 erst einmal in die Vergangenheit schaute
VON ESTHER SLEVOGT
Unsere Stadt- und Staatstheater werden hundert, seit ein paar Jahren schon. Bis in die 1990er Jahre zurück kann man eigentlich jedes Jahr in irgendeiner Stadt in Deutschland ein Theater finden, das hundert Jahre alt geworden ist. In diesem Januar war das Staatstheater Stuttgart dran.
Ein Hunderter des Jahres 2012 ist das Theater Duisburg gewesen, dessen strahlend weißer neoklassizistischer Bau ein Prunkstück in der ansonsten kriegs- und nachkriegszerklüfteten grauen Industriestadt darstellt. Denn wenn nach 1945 überhaupt zerbombte Bauten in den kriegszerstörten deutschen Städten wiederaufgebaut statt durch gesichts- und geschichtslose Zweckbauten ersetzt wurden, sind es die Theater gewesen. In ihnen erfanden sich die Nachkriegsgesellschaften in Ost- und Westdeutschland neu, die Theater spielten eine entscheidende Rolle in deren Identitäts- und Gesellschaftskonstruktionen.
Als im vergangenen Oktober die Münchner feierten, wie vor hundert Jahren aus der Lustspielbühne „Zum großen Wurstel“ die Münchner Kammerspiele wurden, da hatte man bei der Lektüre der historischen Geburtstagsartikel auch ein Jahrhundert später noch das Gefühl: Erst das Theater hatte die Münchner Bürger einst zu wirklichen Mitgliedern der Gattung Mensch gemacht.
Nicht nur in München ist auch heute noch den Geburtstagselogen stets der alte Bürgerstolz auf die Institution Theater anzumerken, die sich seit den 1890er Jahren überall im Land in den Stadtzentren breitmachte: pompöse, meist bürgerfinanzierte Bauten, deren Architektur in der Regel durch eine merkwürdige Rückwärtsgewandtheit gekennzeichnet war.
Spezialisierte Architekten
Nicht selten waren die Architekten der Theater, die damals in allen Städten entstanden, in denen in Europa deutsch gesprochen wurde, auch spezialisiert auf Schlösser oder Sakralbauten. Der Hamburger Gottfried Semper zum Beispiel, der in Dresden nicht nur die nach ihm benannten Oper baute, sondern auch das Wiener Burgtheater und vor allem die Hofburg, bis heute der Inbegriff der österreichischen Monarchie. Auch das erfolgreiche Wiener Architektenduo Ferdinand Fellner & Hermann Helmer war nicht nur für seine fast 50 Theaterbauten in Europa berühmt, sondern auch für üppig dekorierte Adelspalais und pompöse Grand Hotels wie das legendäre Karlsbader Grandhotel Pupp.
Unter den Theaterbauten des Büros Fellner & Helmer ragen das Hamburger Schauspielhaus (1900) und das Wiesbadener Staatstheater (1894) hervor. Letzteres kann als ein besonders gespenstisches Beispiel für die Wirklichkeits- und Gegenwartsabgewandtheit der Theaterarchitektur vor einem Jahrhundert gelten. Während sich der eigentliche Eingang ins Theater in einer Kolonnade fast versteckt, trumpft der Bau auf seiner Rückseite mit einer gewaltigen neobarocken und völlig funktionslosen Schaufassade auf, die sich von der Stadt ab- und einem städtischen Park zuwendet, der dem Haus wie ein Schlosspark zu Füßen liegt. Symbolischer kann der Januskopf dieser bürgerlichen Einrichtung gar nicht zum Ausdruck kommen, mit der sich damals das Bürgertum einerseits selbst in den Adelsstand erhob, andererseits aber doch ein entscheidendes Selbstverständigungsmedium und Fundament einer bürgerlichen und demokratischen Kultur schuf.
Bis zur Gründung des Kaiserreichs im Jahr 1871 war Deutschland ein geografisch und politisch nur lose definiertes Gefüge aus Stadt- und Kleinstaaten oder Fürstentümern gewesen, deren Residenzstädte jeweils eigene Hof- oder Staatsbühnen unterhielten. Lange bevor es einen deutschen Nationalstaat mit Hauptstadt Berlin gab, hatte die Pflege einer klassischen Nationalliteratur auf dem Theater für eine relativ homogene kulturelle Identität des deutschen Bürgertums in den verschiedenen Kleinstaaten gesorgt.
In den Jahren um 1900 hatte das Theater als Kultur- und Kunstform erstmals gesellschaftliche Relevanz erlangt. Es war seiner schizophrenen Nischenexistenz zwischen Jahrmarktspektakel und Fürstenvergnügen entwachsen und zum wesentlichen Element einer neuen bürgerlichen Hochkultur geworden. Die pompösen Theaterbauten an zentralen städtischen Plätzen verdrängten in jenen Jahren – (in denen das Kaiserreich samt der ihm einverleibten deutschen Fürstentümer schon im Untergang begriffen war) – infrastrukturell Schlösser und Fürstensitze, wurden zu kulturellen Ersatz(luft)schlössern, in denen sich das Bürgertum in Kontemplation übte und auf den Plüschsesseln der Zuschauerräume still saß, während es in den Foyers in großer Garderobe höfisches Leben kopierte.
Gleichzeitig wurden diese Bauwerke zu bedeutenden Zentren städtischer Kultur: Das reich gewordene Bürgertum, das im Kaiserreich von politischen Gestaltungsmöglichkeiten noch weitgehend ausgeschlossen war, steckte seine Energie in kulturellen Initiativen und kürte besonders das Theater zum gesellschaftlichen Ersatzschauplatz.
Auf dessen Bühnen ließ sich, freilich folgenlos, von politischer Freiheit träumen: mit Schiller oder Lessing zum Beispiel. Denn die Forderung eines Marquis von Posa an seinen Fürsten „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!“ blieb jenseits des Theaters ohne Nachspiel. Dennoch hat diese Vorstellung vom Theater als Labor und Denkraum für eine Gesellschaft der Zukunft in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg dann auch die Politisierung der Künste entscheidend beflügelt.
Viele städtische Theater, die heute ein Jahrhundert und mehr auf dem Buckel haben, sind im letzten Moment vor dem Untergang der alten Welt entstanden. Ihr erwies ihre Architektur noch einmal die Referenz, bevor der Erste Weltkrieg ihr dann den Garaus machte.
Erste Theaterstars
Der Ruhm der ersten Theaterstars hingegen, die das Stadttheatersystem in jener Zeit hervorbrachte, versprach eine klassenunabhängige Stellung in der Gesellschaft, die nicht mehr an konkretes Handel, sondern nur noch an reine Repräsentation geknüpft war. So fand das Gottesgnadentum des Fürsten am Ende dankbaren Ersatz im Gottesgnadentum des Künstlers, das von keiner Staatsform mehr anfechtbar war: im Theaterkünstler, der sich und sein Genie keiner zivilen Ordnung mehr zwingend unterwerfen musste.
Der Untertanenzorn des Zuschauers gegen seinen Künstlerfürsten bebt bis heute noch in den immer wieder aufflammenden, heftigen Debatten um die Zumutungen des Regietheaters nach. Dazu begegnen die Künstlern selbst ihrem Publikum nicht selten mit patriarchalischer Herablassung und empfinden Kritik gelegentlich gar als Majestätsbeleidigung.
Als 2011 das Theater in Freiburg hundert Jahre alt wurde, das im Jahr seiner Eröffnung das größte deutsche Stadttheater gewesen war, hat es die Rolle des Theaters als „Heart of the City“ gleich zum Betrachtungsgegenstand einer ganzen Spielzeit gemacht. Denn längst braucht dieses städtische Organ einen Herzschrittmacher. Das reiche deutsche Stadttheatersystem kränkelt nicht erst, seit die Finanzkrise die kommunalen Kassen lehrte. Es hat auch ein Relevanzproblem.
Schon lange ist das, was einst als sogenannte Leitkultur eine identitätspolitische Errungenschaft des deutschen Bürgertums war, zum Ausschlusskriterium geworden. Die deutsche Gesellschaft setzt sich inzwischen aus Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Wurzeln und Bildungszusammenhängen zusammen und ist mit einem klassischen Bildungskanon nicht mehr unbedingt zu erreichen: eine Realität, die von den Stadt- und Staatstheatern lange ignoriert worden ist.