: Sündenböcke auf der Anklagebank
In Libyen bangen fünf bulgarische Krankenschwestern und ein palästinensischer Arzt um ihr Leben. Heute entscheidet das Oberste Gericht über die Todesurteile. Die sechs werden beschuldigt, Kinder absichtlich mit HIV infiziert zu haben
BERLIN taz ■ Es geht um Leben oder Tod: Heute entscheidet das Oberste Gericht in Libyen über die Berufung von fünf bulgarischen Krankenschwestern und einem palästinensischen Arzt. Die sechs waren am 6. Mai vergangenen Jahres von einem Strafgericht in Bengasi zum Tode durch Erschießen verurteilt worden.
Begonnen hatte das Drama, das auch im Ausland mit großer Anteilnahme verfolgt wird, bereits im Jahre 1998. Im November hatte die libysche Zeitschrift La über einen Aids-Skandal im Kinderkrankenhaus al-Fateh von Bengasi berichtet und dabei die desolaten sanitären Zustände in der Klinik angeprangert. Die Ausgabe der Zeitschrift wurde beschlagnahmt, die La-Räume kurz darauf geschlossen.
Am 29. Januar 1999 wurden ein palästinensischer Arzt verhaftet, elf Tage später 23 Bulgaren, allesamt Angehörige eines internationalen medizinischen Hilfsteams. Gegen sechs Personen wurde kurz darauf Anklage erhoben. Sie hätten, so einer der Punkte, über 400 Kinder absichtlich mit dem Aids-Virus infiziert. 51 der Kinder sind mittlerweile gestorben. Die libyschen Behörden verstiegen sich sogar zu der Behauptung, „die Taten“ seien Teil einer internationalen Verschwörung unter Federführung des CIA und des Mossads – ein Vorwurf, der mittlerweile jedoch wieder vom Tisch ist.
Im ersten Prozess, im Juni 2001, sagten zwei der beklagten Krankenschwestern aus, durch Folter wie Elektroschocks zu Geständnissen gezwungen worden zu sein. Ein diesbezügliches Verfahren gegen zehn Libyer – acht Polizeioffiziere, einen Arzt sowie einen Übersetzer –, endete im vergangenen Januar mit dem Freispruch aller Beteiligten.
Auch eine internationale Expertise konnte die Verantwortlichen in Libyen nicht von ihren kruden Theorien abbringen. So hatten die beiden namhaften internationalen Aids-Spezialisten Luc Montagnier und Vittorio Colizzi im Rahmen eines zweiten Prozesses 2003 dargelegt, dass die Aids-Infektionen in Bengasi auf die schlechten Zustände im Krankenhaus zurückzuführen seien und bereits 1997 begonnen hätten – rund ein Jahr bevor das bulgarische Team im Krankenhaus al-Fateh seine Arbeit überhaupt aufnahm.
Dessen ungeachtet verhängte das Strafgericht in Bengasi 2004 die Todesurteile. Kurz darauf deutete Tripolis jedoch die Möglichkeit an, über die Todesurteile noch einmal zu verhandeln, sollte Bulgarien die Familien der Opfer angemessen entschädigen. Anfängliche Forderungen in der astronomischen Höhe von 10 Millionen Euro pro Kind haben sich mittlerweile bei einer Gesamtsumme von 100 Millionen eingependelt. Doch Sofia stellt sich stur und auf den Standpunkt: Entschädigungszahlungen kämen einem Schuldeingeständnis gleich und sind daher abzulehnen.
Sollte das Oberste Gericht die Todesurteile bestätigen, können die Beteiligten nur noch auf eine Begnadigung hoffen. Kassiert das Gericht jedoch die Urteile, wird das Verfahren wieder an ein Strafgericht überwiesen, das das libysche Justizministerium benennen muss. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass das Gericht seine Entscheidung vertagt.
Optimisten, die an die zweite Variante glauben, führen nicht zuletzt den Annäherungsprozess zwischen Libyen und dem Westen als Argument ins Feld. So beschloss der Rat der Europäischen Union am 11. Oktober 2004, Libyen die Mitgliedschaft in der Euro-Mittelmeer-Partnerschaft anzubieten, die Sanktionen gegen Tripolis zu beenden und das Waffenembargo aufzuheben. Zudem hat die EU-Kommission im November vergangenen Jahres einen Bengasi-Aids-Aktionsplan ins Leben gerufen mit dem Ziel, die medizinischen Standards im Kinderkrankenhaus in Bengasi zu verbessern.
Aufhorchen lassen auch die jüngsten Äußerungen des Gaddafi-Sohns Seif al-Islam. Der arabischen Zeitung al-Bajan sagte er, dass in erster Linie die libyschen Behörden für die Aids-Infektionen zu kritisieren seien. Die Verantwortlichen des Krankenhauses seien nachlässig und undiszipliniert gewesen und hätten nicht angemessen auf die Krise reagiert, und: Die bulgarischen Angeklagten seien vor dem Prozess gefoltert worden.
BARBARA OERTEL