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Archiv-Artikel

Vermisstenanzeige für das revolutionäre Subjekt

KRISENTHEATER „Berlin Alexanderplatz“ und „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ in der Schaubühne und dem Deutschen Theater in Berlin. Große Chöre füllen die Bühnen. Aber mit der Revolution, die so angerufen wird, haben die beiden Stücke dann doch nichts am Hut

Ihre Verteidigung des Kommunismus ist jene Stelle, an der man unsicher wird, wie ernst das gemeint ist

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wie sich die Bilder gleichen: Klickt man sich durch die Fotodateien deutscher Bühnen in dieser Spielzeit, dann stößt man wieder und wieder auf eine Choreografie für Menschenmassen. Große Chöre füllen die Bühnen. Aus der Ferne betrachtet haben sie etwas von einem Appell: Macht mal hinne, Leute, bewegt euch wieder, geht auf die Straße, es gab mal so etwas wie Revolution, schon vergessen? Könnte nützlich sein in Zeiten, wo die „Armut der Armen dem Reichtum der Reichen“ zugutekommt, wie Brechts „heilige Johanna der Schlachthöfe“ am Ende erkennen muss.

Aus der Nähe betrachtet, sieht die Sache allerdings meist wesentlich vertrackter aus. Da liefern die Regisseure, wie Volker Lösch in „Berlin Alexanderplatz“ an der Berliner Schaubühne oder Nicolas Stemann mit Brechts „Johanna“ im Deutschen Theater in Berlin, zwar einen Befund der herrschenden Marktkräfte, wie er dunkler in sozialen und ökonomischen Folgen kaum sein könnte. Aber was dann bei ihnen hin und her wogt auf der Bühne, ist dann doch alles andere als das vermisste revolutionäre Subjekt.

Bei Volker Lösch bilden ehemalige Strafgefangene den Chor, der Franz Biberkopf bei seinem vergeblichen Versuch, nach dem Gefängnis als „anständiger Mensch“ im Leben wieder Tritt zu fassen, mit ihren Erfahrungen rahmen. Lösch hat schon mit vielen Gruppen sozial Stigmatisierter gearbeitet: Noch in keiner, sagt er, sei es so schwer gewesen, die für Theaterproben und Chorarbeit notwendige Solidarität herzustellen.

Sie würden ja gerne, die Theatermacher, ihre Arbeit als linkes Projekt sehen, allein sie wissen auch um die Widersprüche eines solchen Vorhabens im (noch!) ausreichend subventionierten Theaterbetrieb. Nicolas Stemann schwärmt deshalb nicht umsonst von einer Regieanweisung Brechts: „Brecht stellt sich vor, dass sich am Ende der Vorstellung die Bühne hebt und man sieht, dass sie von tausenden von Arbeitern getragen wird. Als Metapher, die das ganze Theater in Frage stellt, ist das großartig.“

1929, zur Zeit der ersten Weltwirtschaftskrise, schrieb Döblin an seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ und Brecht (mit Koautorin) an der „heiligen Johanna“. Es ist kein Zufall, dass ihre Stoffe gerade jetzt, mitten in einer Krise, von der fast niemand zu sagen wagt, ob sie sich im Auf- oder im Abschwung befindet, hervorgezogen werden. Elfriede Jelineks großartigen Finanzmarkttext „Die Kontrakte des Kaufmanns“ hat Nicolas Stemann schon in Köln und Hamburg in einer wunderbar luziden Inszenierung auf die Bühne gebracht, die Schaubühne hat mit Falk Richter seit Jahren einen Kapitalismuskritiker als Autor und Regisseur am Start. Der brachte mit „Trust“ im Oktober ein intelligentes und kabarettistisches Stück über die inflationäre Forderung nach „Vertrauen“ in die Handlungen der Marktakteure heraus. Sonst aber ist guter dramatischer Stoff, der dem real existierenden Irrsinn die Stirn bieten kann, Mangelware.

Auf Grund seiner Jelinek-Dramatisierungen erwartet man viel von Nicolas Stemann. Doch sein sonst so leichtes Balancieren von inhaltlichen Schwergewichten kommt in seiner „Johanna“ nicht recht zum Zuge. Zwar nähert er sich dem Stück um Mauler, der mit künstlicher Warenverknappung zum Börsenspekulanten wird, mit bewährten Mitteln. Mit dem Textheft in der Hand balgen sich die drei Schauspieler um die Rolle des Mauler immer dann, wenn er auf dem aufsteigenden Ast ist, und schieben ihn sich, ist seine Spekulationsblase geplatzt, wieder unwillig zu. Live-Musiker stützen Johannas Wege zu Mauler und in die geschlossenen Schlachthöfe, wo die Arbeiter vergeblich auf Arbeit warten. Das ist alles lustig, musikalisch gut durchkomponiert und brechtisch obendrein. Aber kann doch nicht verhindern, dass sich die Geschichten um Fleischaufkäufe, Erpressung und die Korrumpierbarkeit der Heilsarmee hinziehen.

Brecht und Stemann, der Kombination scheint die Reibung zu fehlen. Während der Regisseur sonst auf der Metaebene, mit der Reflexion seiner Theatermittel, stets auch inhaltlich den Horizont aufreißt, bleibt dieser Zugriff bei Brecht, der diesen Geist ja vorgegeben hat, plan.

Aus diesem Schema schert allerdings eine aus, die Schauspielerin Margit Bendokat. Anfangs eine Witwe, die mit Mittagessen bestochen wird, das Maul zu halten über ihren bei der Arbeit getöteten Mann, wird sie zur Agitatorin, die Johanna ihre katholische Naivität austreibt. Ihre Verteidigung des Kommunismus ist genau jene Stelle, an der man unsicher wird, wie ernst das gemeint ist; die Schauspielerin, schon lange am Deutschen Theater in Berlin und gelernte Ostlerin, schafft es ausgerechnet mit einem routiniertes Leiern pathetischer Worte, das Zuhören und Mitdenken wieder einzuschalten. Da war mehr als Theater, da knallte Geschichte durch eine elegante Oberfläche, plötzlich und präzise.

So, wie Bendokats Agitatorin die Lage schildert zwischen den Spekulierenden und den Verarschten, so lässt Stemann seine Inszenierung auch enden. Es gibt keinen Grund mehr, nicht zu Gewalt zu greifen. Der Markt wird seine Gesetze, die der Chor aus Viehhändlern, Arbeitern und Hungernden als unumstößlich wie eine Naturgewalt benennt, auch dann nicht ändern, wenn seine Akteure selbst zu Opfern ihren eigenen Handlungen werden. Steht so bei Brecht, und dem zu widersprechen, sind die Argumente heute schwieriger denn je zu finden.

Es gibt keinen Grund mehr, nicht kriminell zu werden: Darauf läuft Volker Löschs „Berlin Alexanderplatz“ am Ende hinaus. Wobei dies weniger Ergebnis der Bearbeitung des Romans von Alfred Döblin ist als vielmehr der breiten Rahmung durch die Textströme, die Volker Lösch zusammen mit Dramaturgen und Schauspielern aus den O-Tönen von mehr als zwanzig entlassenen Strafgefangenen destilliert hat. Döblins monumentales Panorama einer Stadt schrumpelt dabei etwas zusammen auf eine Rolle als Stichwortgeber: für die, die wie Franz Biberkopf das anständige Leben nicht hinkriegen.

Wie die die Geschichten ihrer Straftaten, die eigene Dummheit oder die ihrer Opfer, die eigene Brutalität und die, die sie erfahren haben, von Anfang an in den Raum schleudern, in Gruppen und solo gesprochen, auf der Bühne und im Zuschauerraum, hat in der Tat etwas Atemberaubendes. In kurzen Sätzen Fall nach Fall skizziert, füllt sich der Raum mit einer Spannung, gegen die die Romanbearbeitung als leicht folkloristische Milieustudie mit Miezeken hier und Franzeken da abfällt.

Denn zunächst ist man mit der ungewohnten Erfahrung beschäftigt, von Mord, Drogengeschäfte, Betrug und Diebstahl zu hören und zu wissen, dass die Sprecher auch die Täter waren. In zwei Stunden erfährt man verdichtet, was zusammengerechnet für mehrmals lebenslänglich gereicht hat. Dennoch ist das kein voyeuristisches Ausstellen ihrer Biografien wie in einer Bekenntnis-Show. Volker Löschs Form der Textbearbeitung und das kollektive Sprechen dienen auch als Schutz, die Geschichten kommen aus der Gruppe, werden aber anonymisiert. Das erleichtert das Hinsehen, wo man sonst instinktiv wegsieht, auch aus Scham vor Milieutourismus.

Ja, irgendwann wiegt man sich gar in dem guten Gefühl, ihnen mit dem Zuhören und Ansehen etwas von der menschlichen Aufmerksamkeit und Anerkennung zurückzugeben, die ihnen mit der Stigmatisierung als ehemalige Strafgefangene auch entzogen wird. Ein gutes Gefühl, das am Ende durch Stimmen des Neides, „ich hätte gerne ihre glückliche Kindheit, ihr Studium, ihr Haus auf Mallorca“ wieder geschmälert wird. Muss ja so sein.

Der Höhepunkt der Inszenierung, in der Laien und die vier Schauspieler von Anfang an um die Wette brüllen, ist eine sprachlose, mit kräftigem musikalischem Antrieb untermalte Szene der Geldanhäufung. Alle tragen Panzerknackerkostüme, alle schleppen erst kleinere, dann immer größere Geldsäcke mit dem Logo einer Bank. Nur mühsam lässt sich der Berg schließlich erklimmen. Einerseits wird so von der Diebestour erzählt, in die Franz Biberkopf sein hinterhältiger Freund Reinhold hineinzieht. Andererseits aber ist dieser Bühnencomic eine Metapher auf die Gier, die die Handlungen der Banken und des Verbrechens schwer unterscheidbar macht.

„Du sollst nicht stehlen“ steht über der Bühne: Was ist der Überfall einer Bank gegen ihre Gründung, könnte dort frei nach Brecht auch stehen. Aber wo die persönliche Bereicherung so zugleich als natürlicher Trieb und letzte Ausfahrt vor dem Ausgenommenwerden hingestellt wird, hat sich die Frage der Schuld erledigt. Nach der fragt das Stück nicht, ihr weicht es aus. Das ist seine Schwachstelle.

Das Theater gegenüber der Realität und ihren Konflikten zu öffnen, ist Volker Lösch durchaus gelungen. Zu dieser Realität dann über die Fallbeispiele hinaus Stellung zu beziehen und nach den Konsequenzen zu fragen, allerdings nicht.