: Auf Du und Du mit dem Vampir
TIERLIEBE Ilona Bausenwein hilft invaliden Fledermäusen. Eine von ihnen, Carlo, wurde ihr sogar zum Lebensgefährten. Denn anders als ihr Ex kriegt er morgens die Zähne auseinander
■ Fledermäuse: (Microchiroptera) sind eine Säugetiergruppe, die zusammen mit den Flughunden (Megachiroptera) die Ordnung der Fledertiere (Chiroptera) bilden. Zu dieser Ordnung gehören die einzigen Säugetiere und neben den Vögeln die einzigen Wirbeltiere, die aktiv fliegen können.
■ Vampirfledermäuse: (Desmodontinae) sind ein Taxon der Fledermäuse. Sie werden als Unterfamilie der Blattnasen (Phyllostomidae) eingeordnet, die nur auf dem amerikanischen Kontinent leben. Sie sind die einzigen Säugetiere, die sich ausschließlich vom Blut anderer Säugetiere oder Vögel ernähren
■ Fledermäuse in Not: Wer eine verletzte Fledermaus gefunden hat, erreicht unter (0 70 71) 7 87 01 oder (0 70 71) 2 63 56 das Notfalltelefon des Freundeskreises Tübinger Schlossfledermäuse (www.fledermaeuseintuebingen.de). Erste-Hilfe-Tipp: Die Fledermaus mit einem Tuch (Handtuch, Taschentuch oder Lappen) nehmen und in der Hand festhalten. Die Fledermaus in eine Schachtel mit Luftlöchern setzten. Wenn Sie nur eine große Schachtel (Schuhkarton) haben, diese mit einem Handtuch oder anderem Stoff füllen. Fledermäuse mögen es gerne eng und kuschelig. Und brechen gerne aus. Schachtel mit Gummi sichern!
VON KHALID EL KAOUTIT
Im Kasten Nummer acht sucht Ilona Bausenwein nach Betty und stößt auf den dicken Wenzel, der zwei Bäuche zu haben scheint und eigentlich zum gegenüberhängenden Kasten gehört. Zwei Kästen weiter wird Frau Bausenwein fündig: Betty hat sich in der letzten Nacht zu Anna und der kleinen Serena, auch Seri genannt, gesellt. Alle drei Damen hängen dicht an dicht beieinander – zwischen flauschigen Frottiertüchern. Der graue Kasten mit der Nummer sechs für sie allein.
Manieren lernen
Aufnahmestation nennt Frau Bausenwein die Wohnung in einem baufälligen Altbau im Herzen der Tübinger Altstadt, die die Stadtverwaltung ihr und ihren Mitstreitern vom Verein „Freundeskreis der Schlossfledermäuse Tübingen“ zur Verfügung gestellt hat und nun über hundert Fledermäuse beherbergt.
Frau Bausenwein kennt sie alle – mit Namen. „Hier werden invalide Fledermäuse aufgenommen und rehabilitiert“, sagt sie. Invalide sind solche Fledermäuse, die nach den Gesetzen der Natur keine Überlebenschance hätten – sie bleiben für immer in der Aufnahmestation. Aber auch Jungtiere werden hier gepflegt. Sie leben mit Erwachsenen zusammen, damit sie „Manieren lernen“ – wie Frau Bausenwein sagt – und später in Kolonien aufgenommen werden können. Der Raum mit den nummerierten Holzkästen an den Wänden riecht nach Wald und Fledermauskot. Der Boden ist mit Holzspänen übersät, damit die Tiere den Bezug zur Natur nicht verlieren. Überall hängen Tücher unterschiedlicher Farben und Größen – dennoch ausschließlich aus Frottee, Jersey und Nicki. „Fledermäuse haben es gern weich“, erklärt Frau Bausenwein.
Mittelgroß ist sie, Anfang fünfzig, kurze blonde Haare und klare blaue Augen. Über Fledermäuse könne sie unendlich viel erzählen, sagt sie. Doch wenn es um sie selbst geht, dann wird sie eher wortkarg. Sie nimmt Anna in die Hand – Zeit für die Zahnpflege. Frau Bausenwein öffnet Anna das Maul und fängt an, den Zahnbelag mit einer spitzen Nadel zu entfernen. Anna zeigt wenig Begeisterung. „Auch Fledermäuse mögen keine Zahnärzte“, sagt die selbst ernannte, eintausenddreihundertfache Mutter lachend.
Mindestens so viele Fledermäuse habe sie großgezogen, erzählt sie stolz. Das Ganze fing vor fünfundzwanzig Jahren an, als sie eines Tages ein Fledermausbaby auf ihrem Balkon entdeckt hatte. Sie dachte, es sei tot. Doch als sie es in die Hand nahm, fing das Baby an, sich zu bewegen und nach seiner Mutter zu schreien, die sofort zu ihm eilte. Eine halbe Stunde lang musste Frau Bausenwein damals mit gestrecktem Arm zusehen, wie auf ihrer Handfläche die Fledermausmutter das Baby leckte und aufwärmte. „Von wegen scheue und gefährliche Tiere“, sagt sie heute. Dieses Ereignis habe sie damals sehr berührt. Es war die Geburtsstunde einer Leidenschaft für Fledermäuse, die die Diplomgeografin nun ihr halbes Leben lang begleitet.
Zur Hälfte sei sie eine Fledermaus geworden, sagt Frau Bausenwein. „Meine Freunde erwarten, mich eines Tages mit dem Kopf nach unten hängend in der Dusche zu finden.“ Viele Freunde habe sie nicht und das tue ihr keineswegs leid, erzählt sie, mit Tieren komme sie besser aus. „Tiere kommen zu dir, wenn du ihnen sympathisch bist, und hauen ab, wenn sie dich nicht mögen.“ Alles eine Frage der Chemie – bei den Fledermäusen wie bei Frau Bausenwein. „Ich bin auch so. Viele mögen meine Meinung nicht, weil ich direkt bin. Lügen und dabei ständig grinsen und die Freundlichseinnummer schieben liegt mir nicht“, sagt sie. Früher hat sie mit einem Mann zusammengelebt. Doch die Zeit sei alles andere als Friede, Freude, Eierkuchen gewesen. „Am Frühstückstisch hatte er nicht mal die Zähne aufgemacht, um mit mir ein Wort zu wechseln“, erzählt sie, „aber jetzt habe ich Carlo und vermisse gar nichts.“
Carlo mag keine Männer
Carlo habe schon im ersten Jahr Weihnachtsplätzchen gekostet und halte seitdem keinen Winterschlaf, erklärt Frau Bausenwein. Nicht wie seine Artgenossen. Das nun seit etwa zehn Jahren bei ihr lebende Fledermaus-Männchen ist eine von zurzeit vierzig Fledermäusen, mit denen Frau Bausenwein ihre eigene Wohnung teilt. Es waren sogar mal einhundertachtzig. Bis auf Carlo seien alle krank und zur Behandlung bei ihr, erzählt sie. Ein Besuch bei ihr sei deshalb nicht möglich. „In eine Intensivstation dürften Sie auch nicht ohne Weiteres“, argumentiert sie. Aber auch wegen Carlo. Wie Frau Bausenwein hat sich auch er verwandelt. Zur Hälfte ist er zu einem Menschen geworden. Die beiden scheinen sich in der Mitte getroffen zu haben. Die Beziehung zwischen ihnen ist fast schon eine Lebenspartnerschaft. Frau Bausenwein redet von ihm, als wäre er der Mann des Hauses. „Wenn Besuch zu mir kommt, dann muss Carlo das erst mal akzeptieren“, sagt sie lachend. Besonders Männer seien ihm unsympathisch – so was nennt man Eifersucht oder Revierverteidigung. Es kommt einfach auf die Perspektive an.
Anna hat sehr viel Belag an den Zähnen. Schwarz und hart. „Das kommt von den Mehlwürmern, die sie jeden Tag isst“, sagt Frau Bausenwein, „es ist so, als würde sich ein Mensch ausschließlich von Weißbrot ernähren.“ Schnitzel und Schwarzbrot für die Fledermäuse kann sich der Verein nicht leisten. Allein für Weißbrot – also Mehlwürmer – geben die Freunde der Fledermäuse zwischen 12.000 und 15.000 Euro pro Jahr aus, schätzt Frau Bausenwein. Für diese und weitere Kosten ist der Verein auf Spenden und auf Carlo und Frau Bausenwein angewiesen. Beide sind die Stars der Führungen, die der Verein am Schloss Hohentübingen veranstaltet und damit den größten Teil seiner Einnahmen bestreitet.
Umgeben von einem tiefen Graben – dem Hasengraben – liegt das Schloss auf dem Schlossberg in Tübingen, der Stadt „mit der Schokoladenseite“ und mit einer der größten Fledermauskolonien Deutschlands. Das Schloss gehört heute der Universität und ist ein Ort für Studenten, Touristen und Fledermäuse. Dabei sind es die Fledermäuse, die am längsten hier sind. Im Hasengraben üben Jugendliche Bogenschießen. An dessen Mauer spricht Frau Bausenwein etwa vierzig Menschen mithilfe eines Lautsprechers an und klärt sie über Fledermäuse auf – jeden Samstag von Anfang April bis Ende September. Etwa zwei Stunden lang erzählt sie humorvoll und mit viel Leidenschaft über das Leben und die verschiedenen Arten der sympathischen „Verwandten Draculas“, wie sie sagt. Auch Carlo ist jedes Mal dabei. Voller Einsatz – mit Leib und Seele. Auf Befehl zeigt er seine Füße, macht seinen Mund auf oder spannt seine Flügel aus.
Im Zimmer mit dem Holzspäne-Boden und den Frottiertüchern freut sich Anna, dass die Zahnbehandlung vorbei ist. Als Frau Bausenwein sie in ihren Kasten bringt, flattert sie mit den Flügeln und öffnet das Maul, als würde sie etwas sagen. Betty und Seri rücken zur Seite und machen ihr Platz. „Ja, so ist es“, kommentiert Frau Bausenwein, zuerst müsse die Sitz- oder besser gesagt die Hängordnung geklärt werden. Sie findet Kallilo hinter einem Tuch an der Wand. Sein Kopf ist übersät mit Blessuren. „Das waren bestimmt die Weibchen“, sagt Frau Bausenwein. Es sei Paarungszeit und Kallilo noch jung und unerfahren. Sie weiß nun, warum die drei Damen den Kasten Nummer sechs für sich allein beansprucht hätten: „Um sich vor der ständigen sexuellen Belästigung zu schützen.“ Wenzel, viel älter als Kallilo, habe sich hingegen strategisch positioniert und „wollte bestimmt den Damengesprächen lauschen und auf den richtigen Moment warten“, erklärt Frau Bausenwein. „Ist doch offensichtlich, oder?“ Sie lacht.