In der Blase der Vergangenheit

Die Studio-Reihe der Schaubühne stellt neue Stücke vor: Nach einem zähen Auftakt gewann sie mit „Blackbird“ von David Harrower an Fahrt

Ein kahler Raum, weiß. Nur ein Lamellenvorhang hängt von der Decke. An diesem Ort kann alles passieren, das weiß man von Anfang an. Oder auch nichts, das ist die Gefahr. Die Gefahr des ungeschriebenen Blattes: Auf das Wort kommt es an.

So ist die Studio-Reihe der Schaubühne, die mit der Uraufführung von Lars Noréns „Distanz“ eröffnet wurde, auch angelegt: Man will dem Publikum die neue Arbeiten zeitgenössischer Autoren nahe bringen. Solcher, die wie Norén, Marius von Mayenburg, David Harrower und Richard Dresser längst mit der Schaubühne verbunden sind, und anderer, auf deren Entdeckung man setzt. Der Kanadier François Létourneau und Alfian Bin Sa’at aus Singapur etwa, die in der kleinen Studio-Bühne ihre deutschsprachige Erstaufführung erleben werden, oder der junge Autor Christoph Nußbaumeder, der den Stückewettbewerb der Schaubühne 2005 gewann. Der Spielraum der Liebe in einem von ranziger Doppelmoral verseuchten (bayrischen) Umwelt soll bei Nußbaumeder ausgemessen werden.

In Lars Noréns „Distanz“, mit dem die Reihe im Oktober startete, sind von der Liebe nur die Nachwehen übrig geblieben. Das Wort, das den blanken Raum füllen sollte: Beziehungs-Überdruss-Gezänk. Durch den Lamellenvorhang treten zwei Paare hervor, die nichts gemeinsam haben. Warum sie zusammen in Urlaub gefahren sind? Um unterm Sonnenschein am See die Langeweile zu lüften, die sie zu Hause abnagt? Weil Tomas und Kristoffer Kollegen sind, beide Polizisten, und schon mal zusammen in Bosnien im Einsatz waren? In Bosnien, ja, 1995. Deshalb. Damit kann Norén den Horizont ausweiten, die große Welt in die Gartenlaube einlassen, den Zeigefinger erheben, Achtung! Achtung! Kriegsszenarien blaken in der Ferne, und am Seeufer wartet schon das Fegefeuer.

Stoffe, die „einen kritischen Zugriff auf heutige Realitäten“ und „einen politischen Blick auf Individuum und Gesellschaft“ aufweisen, sollen in der Studio-Reihe zum Tragen kommen. Leider übertraf bei diesem Norén-Auftakt der moralische Eifer die dramatischen Mittel. Allein, dass der junge Regisseur Enrico Stolzenburgs mit Falk Rockstroh und Cristin König auf Darsteller vertrauen konnte, die womöglich selbst aus Kneipenklograffiti einen unterhaltsamen Theaterabend herausfiltern würden, bot dem Besucher trotz dürftiger Vorlage eine Ersatzbefriedigung.

Am Freitag hatte das zweite Stück der Studio-Reihe, „Blackbird“ von David Harrower, Premiere. Diesmal doch ein Glücksgriff. Diesmal hat Jan Pappelbaum das Weiße der Studiobühne ein wenig moduliert. Eine gewellte, aseptische Kunststoffwand, in dem eine Tür eingefasst ist, trennt das Innen vom Außen. Wobei das schmale Gelass, auf das man schaut, mit Plastikbechern und Plastiktellern zugemüllt, dem Durchgangsraum eines Provinzbahnhofs ähnelt, wo Durchreisende bedenkenlos ihren Abfall fallen lassen. An Bahnhöfen rast die Zeit; nur des Nachts hängen die Minuten an den Gleisen und in den Gängen wie Seifenblasen, die nicht platzen wollen. Man möchte sie mit einer Nadel anpieksen, zack, und doch kommt man nicht an sie ran. So auch in diesem Stück: Es ist spät, „ein paar Minuten und dann musst du gehen“, sagt Ray, aber die Zeit dehnt sich. Sie muss sich dehnen, um in die Vergangenheit zurückzureichen. Die zwei, die sich hier treffen, verbindet dort ein dunkler Punkt. Ein ungeklärtes Ereignis. Missbrauch hieß es für die anderen. Für sie war es vielleicht Liebe, wer weiß es.

Auf jeden Fall kreisen sie um diesen Punkt, als wollten sie herausfinden, was da war. Streicheln mit zärtlichen Tönen die Lücke, die von Eltern, Therapeuten und Richtern mit hartem Begriffskitt zugemauert wurde. Und wenn sie sich kreischend die Vorwürfe um die Ohren hauen, die andere für sie fanden, wirken die Vorhaltungen wie Schutzwände, die den Punkt vor all dem Schlamm fern halten sollen.

Vor fünfzehn Jahren geschah es, seitdem haben sie sich nicht mehr gesehen. Una war damals 12, Ray 34. Im entscheidenden Moment haben sie sich verpasst, ihr Verhältnis wurde publik, es gab einen Prozess, sechs Jahre musste Ray absitzen. Jetzt stakst Una (Jule Böwe) in die Firma herein, in der er arbeitet, lakenbleich ist sie, „ein Gespenst“, wie er sagt. Nach Knast, Spott und Schmähungen hat sich Ray (Thomas Bading) in einem neuen Leben eingerichtet. Und an dieses Leben klammert er sich – mit dicker Brille und hängenden Schultern die Hypostase des Ausgestoßenen, der sich hochrappelt. Wie sollte er nicht dieser Frau zuhören, die, zuckend, schreiend, wallend, mal flüsternd, mal spottend, losbrausend und liebkosend, Wüterich, Geliebte und Verzweifelte, alle Gefühlslagen auf einmal durchlebt, die mit der Liebe und deren Ende einhergehen? Jule Böwes furioses Spiel macht aus dem entfernten Dreh- und Angelpunkt der Geschichte absolute handgreifliche Gegenwart. Sie könnte ewig währen. Währt aber nur so lange, bis jemand kommt, um Ray abzuholen. Die Zeit ist verstrichen, der Zug abgefahren, es fällt nur noch ein Schrei. Und verdienter Beifall.

AURELIANA SORRENTO

„Blackbird“ am 17., 18., 22., 23. November, „Distanz“ am 20. November im Studio der Schaubühne