Eine von uns

Nena hat ihr Leben zu Papier gebracht: „Willst du mit mir gehen“ heißt das Buch zum x-ten Comeback der Sängerin – und ist eine Art Vermächtnis ihrer Generation: ein Plädoyer für den Eigensinn

VON JAN FEDDERSEN

Eine Unterschrift muss sein: Nein, man werde nichts vor der Sperrfrist aus dem Gesagten veröffentlichen – und das Gesagte obendrein prüfen lassen. Autorisieren nennt man das, und das behält sie sich vor. Es gehört zum Geschäft … Und dann tritt man ihr einfach gegenüber, in Hamburg, im Hotel Atlantic. Nicht gerade die Adresse, die eine wie sie, Susanne Gabriele Kerner, nahe legt: immerhin eine Herberge der noblen Art, wenngleich sie in der Welt des Pops eine passabel gute Adresse ist: Udo Lindenberg pflegt dort zu wohnen. Aber Nena, um die es ja geht, sie würde man gerne im autonomen Jugendzentrum, in einem Schülercafé treffen. Aber Nena ist Nena und sieht überall, das wird von diesem Vormittag auch übrig bleiben, die Welt im Guten. „Hallo“, sagt sie, und niemand käme jetzt noch auf die Idee, sie zu siezen, „wer bist du?“

Nena ist nicht allein, neben ihr eine Pressefrau des Verlags, in dem ihr Buch erschienen ist – und „die Claudia“, die ghostwritende Autorin, eine nett lächelnde Claudia Thesenfitz, die sie freundinnenhaft flankiert. Die Künstlerin aber sitzt auf brokatenem Stuhl und sieht aus, wie sie überall aussieht – und immer ausgesehen hat. Nena – das Gesicht, die Stimme. Die man von Fotos kennt, deren Timbre man überall heraushört, weil es das einer Generation erklingen lässt. Mit einer Allüre nur: dass sie völlig allürenfrei spricht – als Promoterin eines ganzen Weltbildes.

Können Sie in drei Sätzen zusammenfassen, was Ihr Leben heute ist? Nena lacht und sagt: „Nein.“ Und: „Wie könnte das gehen?“ Sie sei immer auf Suche, immer dabei herauszufinden, was ein Rätsel ist, das Leben, die Menschen: „Man kann Menschen nicht ganz erfassen. Man kann 30 Jahre miteinander verheiratet sein – aber man weiß trotzdem nicht genau, wen man vor sich hat.“

Nena spricht, als liefe eine Platte – ach was, besser noch, auf ihren Platten singt sie, als spräche sie zu einem selbst, eben nicht in der distanzierten Pose der Diva, der Zuchtmeisterin – Nena ist in ihren Liedern die Stimme aller Schüler und Schülerinnen gewesen, Vorschläge machend, Atmosphären verkörpernd. Jetzt, auratisch genommen, in den Vierzigern, hat sie noch wie früher diesen Schimmer um sich, den von Suche und Unentschiedenheit, den von Tasten und Fühlen.

Nena sieht dabei, genau genommen, wie aus dem Ei gepellt aus, aber nichts wirkt lackiert, glatt, clean. Schwarz ihre Textilien, hübsch ihre Ringe, wuschig die Frisur, eigentlich so, wie man sie kennt. Ihre Augen groß, mit Kajalstift ummalt. Vor allem aber ihre Stimme, diese gleichmütige, absolut sympathisierende Tonlage, mit der sie nichts rhetorisch unterstreicht, gar nichts pointiert, keinen Satz energisch hervorhebt. Sie ist jener Typus Frau, der aus den informellen Wirren der späten Sechziger und frühen Siebziger hervorgegangen ist. Mit der man auf Anhieb persönlich wird, gesprächlich traut und nah. Die beste Freundin, die man nachts noch anruft, weil sie zuhören wird, und die selbst etwas von Fragen und fehlenden Antworten weiß … und wohl auch des Nachts grübelt und sortiert und zu keinem Schluss kommt.

Jüngeren muss man das wohl erklären – denen die Nena ja bekannt ist, aber die nicht genau wissen, warum. Sieht zwar aus wie viele Mütter, die ja Nena auch ist, vierfach gleich, aber wer der Jüngeren könnte schon sagen, aus welchen kulturellen Scharmützeln eine wie eben Nena hervorgegangen ist?

Susanne Gabriele Kerner war ein Kind in den Sechzigern und Siebzigern, was die Dekaden der Angst waren, Jahre, in denen überall von Furcht und Verderbnis die Rede war. Nena erzählt das eindrücklich. Die Siebziger, sagt sie, da „war das Grundbedürfnis. Wenn ich mal ein paar Stunden dem Wahnsinn um mich herum entkommen konnte, dann habe ich versucht, das auch zu leben. Ich habe es zum Beispiel nicht verstanden, wie man mich zwingen konnte, jeden Morgen an ein und denselben Ort zu gehen, obwohl ich das nicht wollte.“

Lehrerkind – und keine Lust auf Schule, auf das Rennen um beste Noten, Zeugnisse, Zuschreibungen, Abitur und andere Reifeprüfungen. Nena ist da ganz klassisch für ihre Zeit. „Protest ist ein Lebenserhaltungstrieb“, sagt sie, auch, dass sie nicht Teil der alternativen Szene sei, „aber alternativ auf alle Fälle“. Wer das damals nicht war, machte sich verdächtig.

„Angst“, das ist das Thema der Nena, wie Millionen anderer Jugendlicher ihrer Zeit, „dauernd wurde ja damals von Krebs gesprochen“, von der Krankheit, die innerlich alles zerfrisst. Nena, das ist zum Pop gewordene Stimme der Grünen – das ist der künstlerische Ausdruck dessen, was die Eltern jener Jahre nicht verstanden: Hatte man es den Gören nicht nett gemacht? Was verlangte man von ihnen schon – das bisschen Leistung, der wenige Gehorsam … Nein, Nena und all die anderen beharrten auf ihrem Eigensinn, ja, sie wollten sich nicht einpassen in die Welt der Vernunft, der Kompromisse, der Realitäten – und erfanden sich als Künstlergeneration. Die Universen der Technik, ob materialisiert in Atomkraftwerken, Waffen oder Autos, waren nicht geheuer: Kein Wunder, dass eine wie sie die Schule schmiss und Schmuck zu fertigen begann. Goldschmiedin wollte sie werden und fand schließlich doch zur Bühne, zu Scheinwerfern, zum Popstar-Sein.

Ihre Titel nehmen sich heute wie Protokolle der Sprachänderungen in jenen Jahren aus. „Nur geträumt“, „99 Luftballons“, vor allem aber „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“: Statements der Vagheit, der Fantasie, der Nichtfestlegung, weil nichts rasch festzulegen ist. Menschen sind nicht aus Metall, sind keine Kraftmaschinen, kein Ingenieurswerk – sondern eigen und besonders. Das ist Nenas Credo, das ist ihr Vermächtnis, darauf beharrt sie entschlossen.

Dass das bei ihr, als ihr Stern aufzugehen begann, Neue Deutsche Welle hieß, mag Zufall gewesen sein – und zugleich auch wieder nicht. Sie – das Antiprogramm zu den deutschen Rockern und Punkern, zu Intellektuellen wie Kraftwerk oder schmucken Zeitgeistnutznießern wie der Münchner Freiheit. Die Neue Deutsche Welle ist ja just abgewählt worden, die Rot-Grünen, die Regierung des Suchens und Ausprobierens: Nena ist, falls der Vergleich erlaubt ist, das Gegenteil der nassforschen Naivität einer Sabine Christiansen. Die Talkmasterin will endlich wieder klare Linien – während Nena die krumme Linie für die einzig menschengemäße hält.

Das hat bei Nena alles kein intellektuelles Mühen im Kern – sie hat zu einer bestimmten Zeit so gefühlt und gedacht wie andere: antiautoritäre Erziehungsprojekte und Theorien – Nena kennt sie nicht, hat sie früher nicht gelesen. Und ist doch mit eigenen Schulprojekten befasst, in denen Kinder auf ihre eigene Art Verantwortung lernen. Nach eigenem Gusto und Zeitmaß. Kinder, das ist ihr Anliegen, Bildung, vor allem die des Herzens. Deutschland liebt sie, sie ist die prominenteste Grüne, ohne es ausdrücklich zu sein. Sie ist grüner als alle Grünen, weil sie eingebunden ist in parlamentarische Umstände, in Kompromisse und Gesten der Unterwerfung, wenn die Wahlergebnisse es nicht anders zulassen. Eine Goldschmiedin des Glücks – ihr Sound in dieser Suite des Hotel Atlantic lässt keine Fragen offen: Nena will, dass die Menschen sich selbst ernst nehmen, ihre Gefühle und ihre Sehnsüchte. Nena kann sagen, wie das geht: Selbstverwirklichung. Dass sie die finanziellen Mittel dafür hat, spricht nicht gegen ihr Programm selbst. Nur dass nicht alle aus ihren Bedingungen entspringen können – und die grauen Ebenen nicht zu fliehen vermögen.

Und wie sie so spricht und sagt, dass sie nicht wüsste, weshalb Deutschland sie liebe, nur dass sie „fühlt, dass ich in Deutschland einen Platz habe“, wird doch offenkundig: Hier kann eine Zeugnis ablegen für den Erfolg der Rebellion, die in den Siebzigern an allen Schulen begann. Hurra, die Schule brennt, das würde sie nicht mehr sagen, denn es sind ja oft inzwischen gute Schulen, die da in Flammen stehen könnten.

Sie und die Ihren haben es geschafft: keine oppositionellen Nervensägen mehr, als die sie noch in den frühen Achtzigern empfunden wurden, sondern verantwortungsbewusste Bürger und Bürgerinnen, deren Anliegen man zur Kenntnis nehmen muss.

„Ich bestimme, was ich denke, sage und tue“, erklärt sie zum Schluss unserer Kaffee- und Teestunde, das war ihr Ziel – und da ist sie hindurchgefegt. Mit einem Lachen, mit Kraft und mit Hartnäckigkeit: Nena hat das Ihre dazu beigetragen, dass Selbstfindung als innere Haltung keine Domäne von Spinnern bleibt.

Sie hat die Republik besser gemacht. Mehr können ihre Eltern nicht von ihr verlangen: ein Kind, das auf sich selbst bestand. Nena ist eine von uns.