: Berlin geht in den Untergrund
NEUE LUST AM BUDDELN
Noch vor kurzem gab es Fototermine, wenn sich ein Bauvorhaben vom sandig-schleimigen Untergrund hochschraubte: Seht her, die Geburtswehen sind überwunden, nun liegt vor uns eine himmlische Zukunft. Höhenflug statt Bodenhaftung, lautete das Glaubensbekenntnis.
Nun aber ist der Glaube an eine bessere, gerechtere und himmlische Zukunft seit geraumer Zeit verloren gegangen, und die Berliner wenden sich mit Verve wieder ihrer Vergangenheit – und damit auch ihrem Untergrund zu. Am Dienstag wurden die Fundamente des mittelalterlichen Rathauses aufwendig verschoben. Sie sollen nach dem Bau des Bahnhofs Berliner Rathaus und der Fertigstellung der U 5 im Jahr 2019 durch ein „archäologisches Fenster“ zu bestaunen sein.
Angefangen hat die neue Lust am Untergrund vor fünf Jahren. Unter einem Parkplatz mit der Adresse Petriplatz wurden nicht nur die Gebeine von fast 600 Urberlinern entdeckt, sondern auch Berlins erste Schule, eine Lateinschule. Zudem fanden die Archäologen einen Holzbalken, aus dem hervorging, dass die Stadt fünfzig Jahre älter ist als das offizielle Geburtsdatum 1237.
So viel Neues in Sachen Altes auf einmal hat die Stadt wachgerüttelt. Nun soll am Petriplatz schnell mit dem Bau eines Archäologischen Besucherzentrums begonnen werden.
Die neue Lust am Untergrund ist auch ein Stück Trotz. Mittelalterliche Funde wie am Petriplatz sind selten in Berlin. Auch das Rathaus, das nun in die U-Bahn-Station integriert werden soll, ist vorwiegend ein barocker Bau, und abgerissen wurde es erst in den 1860er-Jahren. Es musste dem Neubau des Roten Rathauses weichen.
Berlin ist, im Vergleich mit Köln oder Trier, eine junge Stadt. Eine Stadt fast ohne Geschichte. Vielleicht auch deshalb geht die Archäologie hier neue Wege. In Tempelhof etwa werden Reste einer Zwangsarbeitersiedlung aus NS-Zeiten ausgegraben. „Archäologie der Moderne“ heißt das Konzept. Es stammt aus den USA. Einem Land, das nicht viel älter ist als die meisten Bauzeugnisse Berlins.
So weit, so sympathisch. Freilich gibt es auch eine Geschichtsfraktion, die ihre Devotionalien nicht in der Erde lässt. Wie die Versprechungen des modernen Berlin sollen sie sich – siehe Stadtschloss – aus dem sandig-schleimigen Untergrund in den Himmel schrauben. Mal sehen, was die Archäologen in den nächsten 775 Jahren Berlin dazu sagen. UWE RADA