: 165 brennende Autos sind fast normal
Die Revolte in Frankreichs Vorstadt ebbt ab. Das Parlament verlängert den Ausnahmezustand. Linke kündigt Proteste an und verlangt die Ausrufung des „sozialen Notstandes“. Innenminister Sarkozy wird populärer und sieht sich als Sieger der Krise
AUS PARIS DOROTHEA HAHN
Normal ist, wenn nur 90 Autos brennen. Die Nacht zu gestern in Frankreich war fast normal: 165 Autos verbrannten. Außerdem eine Schule, eine Kirche und eine Polizeistation. Damit ist, so konstatieren PolitikerInnen in Paris, das Psychodrama in den Vorstädten nach 20 Nächten beendet.
Vorerst zumindest. Der Ausnahmezustand wird dennoch verlängert. Zunächst bis Februar. Im Parlament stimmten dem 346 Abgeordnete zu. 148 ParlamentarierInnen votierten gegen die Maßnahme, die nächtliche Ausgangssperren, erleichterte Wohnungsdurchsuchungen und größere Medienkontrolle beinhaltet. Gestern Abend wollten Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und alle linke Parteien – außer der PS – in Paris gegen die Verhängung dieser Polizeipolitik demonstrieren. Stattdessen verlangen sie die Ausrufung des „sozialen Notstands“, inklusive massive Investitionen in Schule, Berufsbildung, Städtebau und Beschäftigung.
Der Mann, der den Gewaltausbruch in der Banlieue mit verbalen Attacken gegen „das Gesindel“ und für die „Kärcherisierung der Vorstädte“ zumindest begleitet, wenn nicht sogar provoziert hat, sieht jetzt wie einer der großen politischen Sieger des Konflikts aus. Die Popularität von Nicolas Sarkozy, in Personalunion Innenminister, Chef der rechten Sammlungsbewegung UMP und Generalratspräsident der reichsten Region Frankreichs, ist laut einer gestern veröffentlichten Umfrage um elf Punkte nach oben geschnellt. Das Institut Ipsos fand heraus, dass Sarkozy mit 63 Prozent Zustimmung derzeit der populärste französische Politiker ist.
Nach derselben Umfrage profitieren auch zwei andere rechte Männer von der Krise. Regierungschef Dominique de Villepins Popularität stieg um sieben Punkte auf 50 Prozent Zustimmung. Die Popularität von Staatspräsident Jacques Chirac stieg um sechs Punkte auf 39 Prozent. Chiracs 14-minütige Fernsehansprache am Montagabend hatte eine Einschaltquote von 83 Prozent. Seine Appelle hält eine Mehrheit von FranzösInnen für „angemessen“.
Den Ausnahmezustand begründen selbst seine VerteidigerInnen vor allem mit dem „psychologischen Effekt“. Auf dem Terrain ist nicht nachweisbar, dass es einen Zusammenhang zwischen Ausnahmezustand und einem Rückgang der Gewalt gibt.
Tatsächlich hat sich die Revolte in den meisten Vorstädten von allein erschöpft. Vielerorts trugen vor allem örtliche Bürgerinitiativen sowie nächtliche Diskussionsrunden auf der Straße und Patrouillen von LokalpolitikerInnen, Eltern und Jugendlichen zu der Deeskalierung bei. In der Nacht zu gestern war die Ausgangssperre nur in 9 der 95 Départements in Kontinentalfrankreich in Kraft.
Allmählich beginnt auch eine Debatte über eine etwaige Umorientierung der Integrationspolitik in Frankreich. „Positive Diskriminierung – Was ist das?“, titelte gestern das Boulevardblatt Parisien und stellte verschiedene Möglichkeiten vor, sozial benachteiligte Jugendliche aus den Vorstädten gezielt zu fördern – sowohl in der Schule als auch auf dem Arbeitsmarkt.
Bislang sprechen sich jedoch die meisten FranzösInnen gegen Quoten aus. In Frankreich gilt die republikanische Gleichheit für alle nach wie vor als sozial gerechter. Im Rest der Welt – insbesondere in den angelsächsischen Ländern – hat Frankreichs Ruf durch die Brände in den Vorstädten gelitten.
Viele US-amerikanische Medien fanden in den vergangenen Tagen die Gelegenheit, sich für Frankreichs Kritik am Irakkrieg und für die französische Häme über die Überschwemmungen in New Orleans zu revanchieren.