Die Taten des Lichts

Grenzenlos zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit, zwischen Raymond Carver und Kafka: Guy Helmingers Erzählband „Etwas fehlt immer“

Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Stadt. Noch bevor man ihre Bewohner näher kennen gelernt hat, drängt sich dieser Eindruck auf. Möglicherweise ist dies eine Folge des außer Rand und Band geratenen Lichts, das in ihren Straßen sein Wesen treibt: Mal kriecht es diesig und gebückt über den Asphalt, sammelt sich im Bordstein und wird braun. Mal hockt es zwischen Außenwänden gefangen in einer Ecke, um später doch schonungslos aus den Dachrinnen auf alles zu springen, was herumsteht. Und abends morst die Straßenlampe eine diffuse Störung ins Innere.

Wo viel Licht ist, ist viel Schatten, und in der namenlos bleibenden deutschen Großstadt, in der die Protagonisten von Guy Helmingers Erzählband „Etwas fehlt immer“ ihren sonderbaren Geschäften nachgehen, herrscht es unumschränkt. Es treibt aus den Bewohnern jene Schattenseiten heraus, die der Luxemburger Autor zu einem befremdlichen Tableau des modernen Lebens verdichtet, gemalt in einem Chiaroscuro aus grellen Bizarrerien und nachtschwarzem Humor.

„Wer Schatten beobachtet, ist über die Äußerlichkeiten hinweg und unmittelbar an der menschlichen Seele“, notiert in der ersten Geschichte Bruno Felder, der Passanten verfolgt, um ihrem fliehenden Umriss das Geheimnis der Person zu entreißen. Auf den Fersen einer panischen Frau wird er nachts im Park mit einer Eisenstange erschlagen. Das krause Panoptikum von Dunkelmännern und -frauen jedoch, zu dem sich Helmingers Geschichten zusammenschließen, erscheint wie die Fortführung dieses abseitig anthropologischen Projekts. Da ist der Richter, der mit seiner Familie eine Schauspielerin zur Verzweiflung treibt durch den exzessiven Besuch ihrer Vorstellungen. Ein anderer erhängt in seiner Wohnung einen geklauten Golden Retriever, um sein Jaulen aufzuzeichnen: „Kein schlechter Mensch, vielleicht ein Künstler“, vermutet ein Dritter, der ihn kennt und der seinerseits der merkwürdigen Leidenschaft frönt, als Radler durch die Straßen zu fegen, um Passanten im Vorüberfahren eins auf den Kopf zu geben. „Etwas fehlt immer“ lautet sein Leitspruch, und vielleicht, weil hier jeder etwas Grundsätzliches vermisst, gab er dem ganzen Band den Namen. Etwas allerdings fehlt vor allem anderen in jeder dieser Geschichten: die Gewissheit, wo genau die Grenzen zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit verlaufen.

Ist es nur der Tick in den Köpfen, der die Menschen hier entzweit? Oder der Abgrund der Alltäglichkeit, der eine Straßenseite von der anderen trennt: in den man beim Zigarettenholen stürzen kann, um nicht mehr zurückzufinden, wo von Verschwörungsgift betörte Menschen Benzin-Attacken auf ihre Nachbarn planen und Mütter auf Bänken ihre Blicke „wie stumpfe Quallen“ dem Betrachter entgegenpumpen.

Dort, wo sich Raymond Carver und Franz Kafka gute Nacht sagen, scheucht das böse Licht von Helmingers Beschreibungskunst eine ungemütliche Zeitgenossenschaft auf. So fremd und absurd das Handeln dieser Gestalten in der eigenartigen Beleuchtung seiner Erzählräume erscheinen mag, so beunruhigend nahe rücken die bedrohlichen Schemen unserer selbst durch ein Verfahren, das schon dem Großstadt-Porträt von Robert Altmans Carver-Verfilmung „Short cuts“ den Schein des Lebens verliehen hat.

Virtuos verknüpft Helminger jede einzelne der Geschichten mit allen anderen zu einem organisch in sich geschlossenen Kosmos. Wie sehr man sich auch gegen die bisweilen splatterhaften Andeutungen sträubt, wenn zurückgewiesene Liebespsychopathen mit den Worten einen Einbruch planen: „Eine Schere wird die Frau doch haben“ – die klare Koordination von Zeit und Raum, mit der hier alles ineinander greift, lässt einem keine andere Wahl, als das Gelesene für möglich zu halten.

So wird der Gang durch die sich von Erzählung zu Erzählung immer genauer herausbildende Topographie der Stadt zu einem peinlich-lustvollen Parcours des Déjà-vu. Und nicht immer lassen sich die innerhalb des Buches selbst gestreuten Erinnerungsspuren von jenen sauber trennen, die der eigene Weg durchs Leben aufgehäuft haben mag.

STEFAN KISTER

Guy Helminger: „Etwas fehlt immer“. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, 270 Seiten, 19,80 Euro