Minsker Momente

Porträt junger Weißrussen: Sebastian Heinzels Film „89 Millimeter – Freiheit in der letzten Diktatur Europas“

Wie leben junge Menschen in Weißrussland, einer Diktatur inmitten Europas? Wie fühlt sich der Alltag an in einem Land, das, kaum war es unabhängig, wieder der sowjetischen Vergangenheit verfiel? Der 26 Jahre alte Regisseur Sebastian Heinzel hat sich auf Spurensuche begeben. Die „andere“ Welt beginnt gleich hinter der neuen EU-Ostgrenze zwischen Polen und Weißrussland. Auf dem Brester Bahnhof, wo jeder aus dem Westen kommende Zug durch einen Radwechsel für die um 89 Millimeter breiteren Gleise fahrttüchtig gemacht wird, setzt „89 Millimeter“ ein.

Mit fast kindlicher Neugier lässt Heinzel sich und die Zuschauer treiben und die Kamera laufen. Sechs Menschen zwischen 20 und 25 Jahren kommen zu Wort. Slawa pendelt zwischen Berlin und Minsk. In Berlin leben seine als politische Flüchtlinge anerkannten Eltern und Geschwister, in Minsk Frau und Tochter. „In Weißrussland ist meine Seele“, sagt er, beim west-östlichen Brückenschlag hilft der Alkohol. Ludmilla, Journalistikstudentin und Mitarbeiterin einer mittlerweile geschlossenen Jugendzeitung, rebelliert auf ihre Art gegen das System. Mit einer Zigarette beispielsweise, die in der Uni zu rauchen zur Exmatrikulation führen kann.

Das hat Alexander, Mitglied der Jugendoppositionsgruppe Zubr, hinter sich. Bereits 30-mal wegen der Teilnahme an Demonstrationen verhaftet, kämpft er weiter gegen Präsident Alexander Lukaschenko: „Ich bin Patriot.“ Das ist auch Igor, der gerade in der Armee dient und keine Anzeichen für eine Diktatur erkennt. Politik interessiert ihn nicht, dafür aber die Entenjagd, die Großmutter auf dem Land, die Heirat. Von einer Familie träumt auch Pawel, der sich, nachdem er eine Haftstrafe wegen Einbruchs verbüßt hat, als Fassadenanstreicher seinen Lebensunterhalt verdient. „Freiheit“, sagt er, „ist, eine Familie und eine eigene Wohnung zu haben.“ Olga schließlich trägt sich mit Ausreiseabsichten. Noch arbeitet die Tanzlehrerin und Choreografin in einem Nobelclub, den mit einer großen Bühne zu vertauschen sie bisher vergeblich versucht hat.

Der unverstellte Blick des Regisseurs ermöglicht bisweilen geradezu intime Einblicke in das Denken und Fühlen der Protagonisten. Das ist die Stärke des Films, aber zugleich auch seine Schwäche. Denn vieles bleibt oberflächlich – Momentaufnahmen eben, die ein Bild mit vielen Leerstellen entstehen lassen. Einmal bringt der Zubr-Aktivist Alexander seine Katze aus der Küche. Die faucht wütend, kratzt und schiebt ihre Krallen unter der Tür hindurch. „Wenn sie größer ist, wird sie sich nicht mehr wegsperren lassen und die Tür wohl allein aufmachen“, sagt Alexander.

Die Situation gerät zur Parabel. Sich nicht mehr wegsperren zu lassen, die Tür aufzustoßen – das ist auch in Weißrussland nur noch eine Frage der Zeit.

BARBARA OERTEL

„89 Millimeter – Freiheit in der letzten Diktatur Europas“. Regie: Sebastian Heinzel. Deutschland 2005, 77 Min.