Dreißig Jahre Stillstand

Heute werden die Preise der Deutschen Schallplattenkritik verliehen. Doch die Jury ist überaltert, die Nachwuchsarbeit des Trägervereins fragwürdig – und der Preis unwichtig

Jenseits von R & B aus den Fünfzigern gibt es keinen Pop unter den Preisträgern

Der Sticker auf Keith Jarretts „Köln Concert“ hat sich eingeprägt: „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“. Jedes Jahr aufs Neue wählt die Jury etwa acht Preisträger aus, viermal im Jahr erscheinen dazu noch Empfehlungen als „Bestenliste“ von Kammermusik bis Jazz und Rock.

In Hinblick auf Einspielungen von Sinfonien, Opern, Kammermusik und dergleichen ist der Preis in guten Händen, und es ist der einzige deutsche Preis, der von der Industrie unabhängig ist. Martin Elste hat als Präsident seit 2000 dafür gesorgt, dass der Preis und die Vergabe transparenter wurde, und allein schon als Schallplattenforscher in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat er einen sehr guten Ruf. Natürlich kann der Präsident nicht überall kundig sein. Popmusik, Jazz und Blues ist nicht sein Fachgebiet. Muss es auch nicht, denn die Jury hat auch hier Experten, die quartalsweise ihre Vorschläge machen und nach einem regelreichen Verfahren ihre Auswahl treffen.

Jenseits von „Blowing the Fuse“ aus dem Hause Bear Family findet sich allerdings kein Pop unter den Preisträgern – das sind Aufnahmen aus den Vierzigern und Fünfzigern. Und wenn die Bestenliste dann für das erste Quartal 2005 empfiehlt, man möge sich „Bohème“ von Annett Louisan anhören, lässt dies aufmerken. Nicht nur, weil sich da unabhängige Fachleute melden. Auch weil Annett Louisans Debüt, wenn überhaupt, dann doch für das vierte Quartal 2004 interessant gewesen wäre, als noch nicht abzusehen war, dass sie sich in allen Kanälen durchsetzen würde. Doch „Bohème“ erschien auf der Bestenliste, lange Zeit nachdem sich das Album in Deutschland etabliert hatte.

Im Herbstquartal dieses Jahres empfiehlt die Jury „Mighty Rearranger“, das neue Album des Ex-Led-Zeppelin-Sängers Robert Plant. Es ist, gemessen an dem mehr als dreißigjährigen Schaffen des 57-jährigen Rockstars, kein schlechtes Album. Genau wie „Chaos and Creation in the Backyard“ des 63-jährigen Paul McCartney, das sich als eines von zwei Popalben auf der Sommerliste findet. Doch eine Auswahl wie diese verhindert, auf die wirklich interessanten Veröffentlichungen des Jahres aufmerksam zu werden. Im Idealfall sogar, bevor sie sich durchsetzen.

Auf schallplattenkritik.de findet man neben den Preisträgern auch die Jury. Der 40-jährige FAZ-Redakteur Edo Reents ist der jüngste Experte für die Sparte mit dem schönen Namen „Pop- und Rockmusik – modern“. Nun sagt Alter nur bedingt etwas über geschmackliche Präferenzen aus. Doch da der Trägerverein des Preises neue Mitglieder nur auf persönliche Empfehlung alter Mitglieder zulässt und diese auf Lebenszeit in ihren Gremien sitzen, haben es musikalische Stile, die sich in den vergangenen 30 Jahren entwickelt haben, schwer. Der Präsident würde HipHop und Elektronica zwar gerne als neue Kategorien einführen, doch dafür müsste etwa die Kategorie Blues dran glauben – aber selbst hier geht die Jury an einer Veröffentlichung wie „Mississippi Soul“ des viel versprechenden 21-jährigen Slick Ballinger vorbei, der gerade das Erbe der Delta-Blues-Leute übernimmt.

Heiko Hoffmann ist Chefredakteur des Groove, eines Magazins für elektronische Musik. Ein Vereinsplatz in der Deutschen Schallplattenkritik ist für ihn nicht attraktiv. „Das ist einfach zu irrelevant. Der Mercury Prize in England wäre schon etwas anderes.“ In England kann es durchaus sein, dass ein Newcomer-Album schon ein dreiviertel Jahr draußen ist, für den Mercury nominiert wird und allein deshalb in den Charts landet – wie zuletzt geschehen mit „I Am A Bird Now“ von Anthony & the Johnsons.

„Da räumen große Ketten schon mal bereitwillig ganze Regale leer für ein Album, das vorher kaum Beachtung fand“, erzählt Spex-Chef Uwe Viehmann. 2002 wurde einmal ein Notwist-Album ausgezeichnet, hat er entdeckt. „Das ist nett“, sagt Viehmann, „aber auch wiederum nicht. Was mir hier fehlt, ist der Kreis der unter 40-jährigen Kritiker, die sich monatlich – oder fürs Feuilleton: täglich – mit der Sache beschäftigen und fündig werden. Dieser Preis hat mehrere inhaltliche und ein Imageproblem. Teilweise ist das hochgradig peinlich“, sagt er. „Gemessen an den Kategorien aber ist man dort offenbar noch vor Punk stehen geblieben. Nein, eigentlich in den späten Sechzigern. Genauso gut könnte man auch das Finanzamt Köln-Nord abstimmen lassen.“

FERNANDO OFFERMANN