: Miamis menschliche Komödie
POLEMIK Tom Wolfe knüpft mit „Back to Blood“ an seine frühen Romane an: Im Stakkatostil beschreibt er das verzweifelte Streben nach Geld und Anerkennung, deckt Rassismus und Neurosen auf
VON KLAUS BITTERMANN
Die Kunst des Schreibens besteht im Weglassen. Ein Motto, das man allen Autoren, die es unter 500 Seiten nicht tun, ins Poesiealbum schreiben möchte, denn in der Branche gilt: je dicker, desto bedeutender. Aber nach der Lektüre bestätigt sich meistens: Weniger wäre mehr gewesen.
Eine Ausnahme von dieser Regel war bislang Tom Wolfe, denn weder bei „Fegefeuer der Eitelkeiten“ noch bei „Ein ganzer Kerl“ hatte man den Eindruck, dass er mal langsam zum Schluss kommen sollte. Bei seinem neuen Buch „Back to Blood“ hingegen kann man sich nicht mehr so sicher sein, ob dies noch gilt.
Tom Wolfe ist der Erfinder des New Journalism, dem auch Joan Didion und Norman Mailer angehörten, und in der Tat brachte Tom Wolfe einen neuen Ton in den Journalismus, der radikal subjektiv und mitreißend war, aber genau beobachtend. Ein Klassiker dieser Literatur war „Der Electric Kool-Aid Acid Test“, ein langer Bericht über die legendäre Reise Ken Keseys und seine Merry Pranksters auf der Suche nach dem amerikanischen Traum. Die Atmosphäre konnte man förmlich inhalieren.
Soziale Konflikte
Auch für seine Romane hat Wolfe umfangreiche Recherchen angestellt. Außergewöhnlich sind sie auch deshalb, weil er ein grandioser Stilist und Erzähler ist, von dem sich behaupten lässt, dass er Balzacs „Menschliche Komödie“ weiterschreibt.
Die Hauptfigur in seinem neuen, in Miami spielenden Roman ist der muskelbepackte Polizist kubanischer Herkunft, Nestor Camacho, der im Hafen einem flüchtigen Landsmann das Leben rettet. So sehen es die „Americanos“, die weiße Mittelschichtsminderheit, die das Sagen hat. Die Kubaner, die die Bevölkerungsmehrheit sind, beschuldigen ihn jedoch, den Flüchtigen kurz vor Erreichen des Festlandes verhaftet zu haben – wodurch ihm automatisch das Aufenthaltsrecht eingeräumt worden wäre, während alle auf See Aufgegriffenen umstandslos wieder zurückgeschickt werden können.
Nestor Camacho wird aus seiner Community verstoßen. Und schon ist Tom Wolfe mittendrin in seinem Thema, den brodelnden ethnischen und sozialen Konflikten, in denen auch noch Schwarze und Russen mitmischen und Camacho zum Spielball aller möglichen Interessen wird. Aber gerade der etwas tumbe Camacho erweist sich als unkontrollierbares Element, deckt mit einem frisch gebackenen Journalisten, der das genaue Gegenteil von Peter Fallow aus dem „Fegefeuer der Eitelkeiten“ ist, sogar einen riesigen Kunstfälscherskandal auf.
Erzählte Tom Wolfe in seinen früheren Romanen konventionell, experimentiert er nun mit dem Mittel der „dramatischen Repetition“, er versucht, durch stakkatohafte Wortwiederholungen Stimmungen zu erzeugen, als ob er seiner eigenen Fähigkeit, solche Zustände mit der gewohnten Eleganz herbeizuschreiben, nicht mehr trauen würde. Er wechselt die Zeiten. Er führt alle möglichen Satzzeichen ein, um Perspektiven und Erzählweisen voneinander zu trennen – alles stilistische Tricks, die er vorher nicht nötig hatte.
Schade ist zudem, dass nicht wenige seiner Kapitel auch Reportagen sein könnten, die sich herausnehmen ließen, ohne dass der Roman Schaden nehmen würde. Im 46-seitigen Kapitel „Columbus Day Regatta“ wird man nichts finden, was für die Handlung wirklich notwendig wäre. Es ist eine teilweise zwar grandiose, aber insgesamt zu lang geratene Erzählung über eine Regatta in Elliott Key, wo auf den Booten alkoholisierte neureiche „Americanos“ eine Orgie feiern und tanzende Mädchen Tangas tragen, „die ihre Hintern in zwei perfekte, pflückreife Melonen teilten“. Dieses nicht besonders originelle Bild wiederholt Wolfe ein wenig zu oft, sodass die bissige Anklage der dekadenten Neureichen darunter leidet und man den Eindruck gewinnt, der Autor selbst hätte eine kleine Obsession.
Auch das Kapitel über die Kunstmesse „Miami Basel“ hat nur peripher mit der eigentlichen Geschichte zu tun, enthält aber großartige Passagen, in denen Wolfe die Gier aufflackern lässt, die die Reichen und die Superreichen beim Spekulationsobjekt Kunst befällt, wenn sie sich am Eingang drängeln und beim „Preview“ wie eine Horde wild gewordener Rentner beim Winterschlussverkauf ins Kaufhaus einfallen und versuchen, sich gegenseitig die besten Stücke des angesagtesten Künstlers wegzuschnappen.
Angesichts dieses Mobs lässt sich gut nachvollziehen, dass die einzig sympathische, weil mit einer gewissen Distanz beschriebe, Figur der große Bösewicht und russische Oligarch Sergej Koroljow ist, der die geltungssüchtigen und auf ihren Status bedachten städtischen Honoratioren düpiert. Seltsamerweise nennt der Verlag diese Geschichte eine Satire, als ob es nicht gerade einen der größten Kunstfälscherskandale gegeben hätte.
Die psychologische Glaubwürdigkeit der Figuren ist nicht immer konsistent, und manchmal geht der Autor mit ihnen zu klischeehaft um. Und trotz des Interpunktionsterrors lässt man sich als Leser nicht davon abhalten, durch die Seiten zu huschen, weil Tom Wolfe immer wieder einen großen Zauber entfaltet, wenn er mit seinem vehementen polemischen Stil das Streben der Menschen nach Geld, Anerkennung und Karriere, ihre rassistischen Vorurteile und ihre Neurosen aufdeckt und dann zeigt, dass es in diesem Sumpf auch Großzügigkeit, Vernunft und Mitleid gibt, die dem gleichen emotionalen Fundus entspringen. Das macht aus Tom Wolfe weiterhin einen außergewöhnlichen Romanautor.
■ Tom Wolfe: „Back to Blood“. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller. Blessing Verlag, München 2013, 768 S., 24,99 Euro