: The last last orders
Süßer die Glocken nie mehr klingen: Ab morgen ist Britannien ohne Sperrstunde
Heute Abend klingen die Glocken zum letzten Mal. Das rituelle ohrenbetäubende Läuten in englischen Kneipen zehn Minuten vor der Sperrstunde, das bei geübten Trinkern einen Massenbestellungsreflex auslöst, wird ebenso abgeschafft wie die beschwörenden, fast flehentlichen Rufe der Barkeeper zum Zapfenstreich: „Time, Ladies and Gentlemen, please!“ Ab morgen versiegen die Zapfhähne in England und Wales nie mehr. Die britische Regierung hat die Sperrstunde aufgehoben.
Für manche ist das ein kultureller Fortschritt, für andere ist es der Untergang der Insel. Wenn Alkohol rund um die Uhr erhältlich ist, seien Alkoholexzesse, auf die Kinder ab zehn in Großbritannien spezialisiert sind, gar nicht mehr notwendig, argumentiert die Regierung optimistisch, wenn auch etwas kryptisch. Da die Wirte schließen können, wann sie wollen, vermeide man zudem das Pulverfass nachts um halb zwölf Uhr auf den Straßen, wenn sämtliche Trunkenbolde gleichzeitig aus den Pubs hinausgeworfen werden.
Unfug, findet der Verband der Polizei: Großbritannien habe ein schweres Alkoholproblem. Der Konsum steigt im Gegensatz zu anderen Ländern, an Wochenenden seien die Zustände in den Innenstädten mit denen in Dodge City zu Zeiten der Gebrüder James vergleichbar. In Weston-super-Mare zum Beispiel, einem Badeort in Somerset, sind die Straßen jedes Wochenende mit Glas übersät, sodass die Verwaltung in der gesamten Stadt nur noch Plastikflaschen zulassen will. Und man müsse sich nur die beliebten Ferienorte auf den spanischen Inseln ansehen, sagt der Polizeiverband, wo britische Urlauber jedes Jahr eine Spur der Verheerung hinterlassen.
Es werden außerdem Vergewaltigungen, Gewalt in der Ehe und Raubüberfälle sprunghaft ansteigen, warnte eine Gruppe hochrangiger Richter. Einer von ihnen, Charles Harris, schrieb im Nachwort des Berichts: „Die Situation ist ohnehin bereits grotesk, und den Zugang zu Alkohol jetzt auch noch zu erleichtern, grenzt an Irrsinn.“
Um den Irrsinn einzudämmen, hatte der Stadtrat von London am Montag eine grandiose Idee: Die Kunstgalerien und Museen der britischen Hauptstadt sollen ebenfalls rund um die Uhr geöffnet bleiben, um eine kulturelle Alternative zum Vollrausch zu bieten. Dass da bisher noch niemand drauf gekommen ist! Man kann sich die Gespräche in der jugendlichen Trinkergemeinde leicht ausmalen: „Lass uns heute mal nicht ins George and Dragon gehen, danach im Vollrausch eine Schlägerei anzetteln, die Nachbarschaft verwüsten und zum Schluss in den Park kotzen, Mate. Stattdessen gehen wir in die Tate Modern und schauen uns Tracy Emins neue Installation an.“
Selbstverständlich erwarten die Lokalpolitiker das nicht, ganz so naiv sind sie dann doch nicht. Sie glauben aber, dass durch die lange Nacht der Galerien mehr Familien und ältere Menschen spät unterwegs sein und für eine friedlichere Atmosphäre sorgen würden. Im Londoner Westend, wo sich die meisten Galerien und Museen befinden? Die Gegend ist nicht gerade bekannt für Horden marodierender Jugendlicher. Außerdem ist den Politikern offenbar entgangen, dass die meisten Museen und Galerien in London ohnehin bis in die Nacht geöffnet haben.
Der Guardian hat den Vorschlag der Stadtverwaltung auf seiner Internetseite zur Diskussion gestellt. Die Beiträge sind durchweg in grauenhaftem Englisch abgefasst. Ein „Me“ sagt: „Kunst ist für Müsli fressende Klotzköpfe aus der Mittelschicht. Man reiche mir noch ein Getränk.“ Matthew meint: „Saufexzesse gehören seit dem Mittelalter zur britischen Kultur. Wer gesittetes Trinkverhalten wie auf dem europäischen Festland will, muss auf Klimaveränderungen warten. Menschen über 30 verlassen nach acht Uhr abends das Haus nicht, weil es zu kalt ist.“ Und ein „ddn“ schreibt: „Wenn ich mir Picasso nüchtern anschaue, wundere ich mich immer, warum die Augen seiner Modelle so durcheinander sind.“
Die Tories hatten vorige Woche versucht, die Sperrstunde zu retten oder ihr Ende wenigstens bis Januar hinauszuzögern, da sich die gesamte Nation zu Weihnachten traditionell dem Alkohol hingebe. Der Antrag wurde im Unterhaus abgeschmettert. Nur ein Tory stimmte mit der Regierung: David Cameron, der im nächsten Monat wahrscheinlich zum neuen Tory-Chef gewählt wird. Ob es damit zusammenhängt, dass er Direktor von Urbium ist, einem Unternehmen, dem eine Kette von Pubs gehört?
Die Regierung hatte vor der Abstimmung ihre Pläne noch einmal im 570 Jahre alten Red Lion Pub in Westminster erörtert. Dort verbringen die Abgeordneten und Minister ihre Freizeit, doch ausgerechnet diesem Wirtshaus wurde der Antrag auf Verlängerung der Öffnungszeiten abgelehnt. Der Parlaments-Pub würde zu einem „öffentlichen Ärgernis“ werden, sagte eine Sprecherin der Lizenzbehörde und fügte hinzu: „Die Beamten haben in Betracht gezogen, wie sich die Kundschaft verhalten würde, wenn sie noch mehr trinkt, als sie es ohnehin schon tut.“ RALF SOTSCHECK