: Krüppel an Körper und Seele
Zwei Dokumentarfilme über den Krieg in Tschetschenien: „Weiße Raben“ von Tamara Trampe und Johann Feindt befragt russische Soldaten, „Coca – Die Taube aus Tschetschenien“ von Eric Bergkraut porträtiert die Aktivistin Sainap Gaschajewa
von BARBARA OERTEL
Ein ausgebombtes Gebäude reiht sich ans andere. Zwei Frauen mit wollenen Kopftüchern, eingepackt in dicke Mäntel, ziehen kleine Handwagen mit ihren Einkäufen über aufgeweichte, matschige Straßen. Sie vergraben ihre Gesichter in ihren Händen – fassungslos und verzweifelt angesichts des Elends, das sie umgibt: Bilder aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny im Jahre 2000. Mit ihnen beginnt der Dokumentarfilm „Weiße Raben“ von Tamara Trampe und Johann Feindt.
Doch nicht vor Ort spüren die Filmemacher dem Wahnsinn dieses jahrelangen, opferreichen Krieges nach, der laut offizieller russischer Diktion gar keiner ist, sondern eine „Anti-Terror-Operation“. Stattdessen wird der Zuschauer Zeuge des Lebens nach dem Kriegseinsatz – des Lebens an Körper und Seele verkrüppelter russischer Soldaten, die mit dem Erlebten umgehen müssen.
Da ist Petja aus Prokopjewsk in Sibirien. 18-jährig und in Erwartung eines guten Solds tritt er nach viermonatigem Dienst in Tschetschenien auf eine Mine. Er verliert einen Arm und ein Bein. „Ich merkte, dass ich kein Bein mehr hatte, starrte in den Himmel und begann zu schreien“, sagt er. Seine Eltern werden mit der Tragödie nicht fertig, für die sich weder der Staat noch die russische Gesellschaft interessiert. „Wir werden ihm ein Haus bauen und er wird darin wohnen“, sagt sein sichtlich gebrochener Vater. „Und er wird ein Mädchen finden. Es gibt auch gute Mädchen in Russland.“
Da ist Kiril, der ebenfalls mit 18 Jahren an die Front in Tschetschenien kommt. Zwei Monate verbringt er als Gefangener der Tschetschenen in einer Grube. „Ich hatte Angst, große Angst vor dem Tod“, sagt er, „wenn sie mir die Pistole an den Kopf gehalten haben.“ Schwer traumatisiert wird Kiril nach seiner Rückkehr mehrere Monate auf der neurologischen Station eines Krankenhauses behandelt. Einige Zeit nach seiner Entlassung beginnt er zu trinken, bricht in eine Wohnung ein und vergewaltigt ein neunjähriges Mädchen. Das Verdikt: 15 Jahre Haft. Zehn Tage nach der Urteilsverkündung stirbt Kirils Mutter – vor Kummer. „Do wstretschi“ – bis zum nächsten Treffen – sagt Tamara Trampe zum Abschied beim letzten Besuch im Gefängnis. Damit wird sie, vielleicht unfreiwillig, zu einer handelnden Person im Geschehen. Und zu einer Hoffnungsträgerin für Kiril, für den es im „zivilen“ Russland keinen Platz gibt.
Und da ist noch Sergej. Jetzt 45 Jahre alt, hat er mit 22 Jahren in Afghanistan gekämpft. „Gibt es etwas, von dem du wünschtest, dass du es nie getan hättest?“, wird er gefragt. Die Antwort lautet: „Das ist eine schmerzhafte Frage. Darf ich sie nicht beantworten?“ Dann erzählt Sergej doch, von einer Episode, die immer wiederkehrt und ihn nicht schlafen lässt. Wie er eine 13-jährige Afghanin, eine vermeintliche Kämpferin, an den Haaren packte und gegen eine Mauer schlug. „Ich hatte die Haare in der Hand, den Skalp. Wie das so ist, wenn man den Schädel in zwei Teile spaltet.“
Es ist ein besonderes Verdienst von Tamara Trampe, mit ihren einfühlsamen Fragen nicht nur den Protagonisten des Filmes, sondern einer ganzen Generation von in sinnlosen Kriegen verheizten Russen eine Stimme gegeben zu haben. Doch genauso wichtig, wie das, was gesagt wird, ist das, was nicht gesagt wird. Denn gerade das Schweigen, die Wortlosigkeit sind es, die deutlich machen, was ein Krieg aus und mit Menschen macht.
Aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich der der Opfer, nähert sich der Dokumentarfilm „Coca – die Taube aus Tschetschenien“ von Eric Bergkraut dem Thema. Bergkraut porträtiert die Tschetschenin Sainap Gaschajewa, die bereits seit Jahren und unter Einsatz ihres Lebens den Terror russischer Truppen gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung dokumentiert. Akribisch werden ausgeweidete und verstümmelte Leiber auf Video gebannt. Beim Betrachten der Bilder fragt man sich unwillkürlich, wie ein Mensch dieses geballte Grauen noch ertragen kann.
Das Ziel von Gaschajewa, die im Westen für ihr Engagement mehrmals ausgezeichnet wurde, ist klar: Das Material soll dem Internationalen Strafgerichtshof für Menschenrechte in Straßburg überstellt werden, um, wenn nicht den Opfern, so doch zumindest den Angehörigen in einem Verfahren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sollte dieser Versuch fehlschlagen, dann wäre nach den Politikern auch die westliche Jurisprudenz diskreditiert.
„Weiße Raben“, Regie: Tamara Trampe, Johann Feindt. Dokumentarfilm, Deutschland 2005, 90 Min.„Coca – Die Taube aus Tschetschenien“, Regie: Eric Bergkraut. Dokumentarfilm, Schweiz 2005, 86 Min.