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Zeit der Zäune

Mit der Digitalisierung des Kinos ist eine neue Dimension der Reproduzierbarkeit erreicht. Die Branche reagiert nach Law-and-Order-Manier: Wer kopiert, wird kriminalisiert

von DIETMAR KAMMERER

Künftige Filmhistoriker werden die Geschichte des Mediums als eine Diätkur beschreiben: Was schwer war, ist leicht geworden. Einst war das Kino ein mechanisches Monstrum aus Metall, Zahnrädern und Zelluloid. Kulissen wurden aus Spanplatten und Gips gebastelt, Komparsen mussten mit Kostümen, Schminke und Sandalen ausgestattet und in Marsch gesetzt werden. Gewiss protzen auch heute noch Blockbuster-Produktionen gerne mit ihrem schieren Material- und Personalaufwand. Aber ohne die Bilder aus den Rechnern hätte selbst der bastelfreudige Peter Jackson weder die Armeen aufeinander prallen lassen noch seinen Königen, Elfen und Zauberern angemessene Behausungen verschaffen können. Dieselbe Technologie sorgt für radikal neue Verhältnisse auch in der Rezeption. „Kino“ kann heute überallhin mitgenommen werden, es ist portabel geworden. Es kommt zur dir nach Hause, als „Video on Demand“, im Abonnement per Post oder – für die Unerschrockenen – über Filesharing-Netze. In naher Zukunft wird selbst der Kinosaal digitalisiert. Im „Digital Cinema“ wird das „große Kino“ sich wie Heimkino anfühlen, wenn die Filmbilder als Datenstrom von Hochleistungsbeamern projiziert werden.

Geist ist ein Grundstück

Wer glaubt, die federführende „Digital Cinema Initiatives“ (DGI) zerbreche sich hauptsächlich den Kopf darüber, wie im Bits-und-Bytes-Zeitalter die perfekte Bildqualität erhalten werden kann, damit Zelluloidfetischisten der Abschied leichter fällt, täuscht sich. Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis der „Digital Cinema System Specification“ verrät die wahren Sorgen: Mehr als die Hälfte des 160 Seiten schweren Dokuments beschäftigt sich – unter Rubriken wie „Trust Management“, „Security Architecture“ oder „Essence Encryption“ – mit dem Schutz der wertvollen Daten.

Denn dieses wird eine zukünftige Filmgeschichte als Erstes feststellen: Je mehr sich das Medium Film ins Immaterielle verflüchtigte, je flüssiger die Bilder wurden, umso gewichtiger, handfester und verzwickter sind die technischen Maßnahmen und juristischen Vorkehrungen geworden, welche die Möglichkeiten ihres Gebrauchs, die Grenzen ihrer Verteilung, die Bedingungen ihrer Rezeption regeln. Was dem Kino an Gewichtigkeit verloren geht, legen Gesetzbücher an Umfang zu, wo der Film droht, in seiner Zirkulation allzu flüchtig zu werden, stehen an allen Ecken technische Container und juristische Falltüren bereit, ihn wieder einzufangen.

Eine unüberschaubare Anzahl an Vorschriften kümmert sich heute um die Gesamtheit dessen, was „geistiges Eigentum“ genannt wird: Bilder, Töne, Musik, Algorithmen, Texte auf Papier oder auf Festplatten, Informationen, Patentanmeldungen, Ideen, Rechte auf Marken, auf Namen, auf ein charakteristisches Paar runder schwarzer Ohren. Bloß der Begriff selbst bleibt dabei unfassbar – wie soll das gehen: etwas besitzen, das nur als Idee Wirklichkeit hat? Eigentum an einem Geist?

Genauer trifft es der englische Ausdruck „Intellectual Property“: „Property“ ist das Grundstück und das Gebäude darauf. Wer nicht will, dass Fremde ungefragt über die eigene Wiese spazieren, zieht einen Zaun drum herum und verlangt Eintritt. Das Recht an geistigem Eigentum ist also im Kern das Recht, Mauern und Zutrittsbeschränkungen zu errichten und von allen, die von der Wiese Gebrauch machen wollen, einen Obolus zu nehmen. Selbstverständlich gelten für die Hereingelassenen immer noch strenge Hausordnungen. Wer sich ein T-Shirt zulegt, darf es umnähen, einfärben oder ein Bild von sich draufdrucken. Wer auf seinem gekauften CD-Album versucht, auch bloß die Reihenfolge der Musiktitel zu ändern, verhält sich unter Umständen strafbar.

Copyright war nicht immer eine Verhinderungsmaßnahme. Ursprünglich diente es dazu, „den Fortschritt von Wissen und Bildung zu fördern“, wie es die amerikanischen Verfassungsväter 1790 formulierten. Dafür mussten alle ins Boot geholt werden: Autoren, Verleger, Leser. Deren Interessen miteinander ins Gleichgewicht zu bringen, muss Sinn und Zweck aller Regelungen sein. Dahinter steht die Einsicht, dass Kultur und die kulturellen Güter – in Wissenschaft, Kunst, Literatur – niemals das Produkt einsamer Genies sind, sondern durch Aneignung, Umformung und Austausch der Ideen aller entstehen. Die Produktion „geistigen Eigentums“ würde bald zum Erliegen kommen, würde jeder seine Ergebnisse eifersüchtig für sich behalten.

Das gilt noch heute, wo geistiges Eigentum nicht nur ein Kulturerzeugnis, sondern auch eine Ware ist, um das sich Urheberrechts- und Handelsvereinbarungen kümmern. Das wichtigste Abkommen in einem Konzert von vielen ist seit 1996 der „WIPO Copyright Treaty“, den auch die Europäische Union unterschrieben hat. Eine EU-Richtlinie zur „Harmonisierung des Urheberrechts“ gab hierzulande Rahmen und Fristen zur Umsetzung vor, doch weil die Debatten alles andere als „harmonisch“ abliefen, kam es zu einer Fristüberschreitung. Also einigte man sich auf einen Minimalkonsens, ließ im September 2003 eilig die überfällige Gesetzesnovelle in Kraft treten und warf alle ungelösten Fragen in einen „zweiten Korb“, der aktuell noch diskutiert wird.

Technik setzt Recht

Zwar ist das nichtkommerzielle Kopieren zum eigenen Gebrauch auch nach der ersten Novellierung weiterhin gestattet. Untersagt ist jedoch, zu diesem Zweck „technische Schutzmaßnahmen“, sprich: einen Kopierschutz, auszuhebeln. Frei nach der Melodie: Man darf zwar wollen, aber nicht können. Was wie ein Widerspruch scheint – was nutzt mir ein Recht, von dem ich keinen Gebrauch machen kann? – folgt einer bekannten Logik: Technik setzt Recht. Was immer Gerätehersteller oder Rechte-Industrie an Standards festlegen, wird nachträglich vom Gesetzgeber legalisiert. DVD-Regionalcodes sind ein solcher Fall. Die „Regional Playback Control“ ist Teil der Verschlüsselung der Videodaten durch das „Content Scrambling System“ (CSS) und soll verhindern, dass eine DVD, die zum Beispiel in den USA gekauft wurde, in einem anderen Teil der Welt abgespielt werden kann. So, als ob die Seiten eines Buchs plötzlich schwarz würden, sobald es über eine Landesgrenze getragen wird.

Wer das umgehen will – wer sein Eigentum nutzen will –, ist gezwungen, CSS zu umgehen. Was verboten ist. Dasselbe gilt für andere Fälle des „fair use“. Viele Hersteller programmieren ihre DVDs so, dass die Werbetrailer zu Beginn nicht übersprungen werden können. Wer ein Recht nutzen will, das im VHS-Zeitalter selbstverständlich war – vorzuspulen –, muss CSS umgehen. Wer seine DVD auf einem Linux-Gerät abspielen will, muss CSS umgehen. Wer für wissenschaftliche Zwecke Filmausschnitte speichern will, muss CSS umgehen. All diese Fälle stellen Verletzungen des neuen Urheberrechts dar – und CSS ist noch nicht mal ein Antikopiermechanismus, sondern „bloß“ eine Verschlüsselungsmethode.

Es lässt sich erahnen, mit welchem Eifer „Content“ geschützt wird: der Inhalt durch Copyright, durch Verschlüsselungs- und durch Kopierschutztechnologien; die Schutztechnologien durch Geschäftsgeheimnis- und Patentrechte. Die Gerätehersteller wiederum werden durch Lizenzvorschriften gebunden. Und Angriffe auf das DRM-System (eine sich beim Einlegen einer CD automatisch installierende Software, die sicherstellt, dass nur eine begrenzte Zahl von Kopiervorgängen möglich ist) werden durch die entsprechenden Untersagungsklauseln in den neuesten Urheberrechtsversionen abgewehrt. Wer einen Film auf DVD erwirbt, kauft sich die Box in der Box in der Box.

Nicht nur zu Hause, auch im Kinosaal geht der Trend zum Hochsicherheitstrakt. Filmjournalisten sind es längst gewohnt, bei Presseterminen Durchsuchungen wie auf Flughäfen über sich ergehen zu lassen. Zusehends wendet die Filmwirtschaft solch aggressive Methoden auch gegen ihr eigenes Publikum. Kinoketten versprechen ihren Mitarbeitern „Fangprämien“, wenn sie Zuschauer aufspüren, die unerlaubt mitfilmen. Schon hat die Branche angekündigt, Übeltäter während der laufenden Vorführung mit Nachtsichtgeräten aufzuspüren. Kein Wunder, wenn immer mehr Leute lieber zu Hause die DVD einlegen. Dort muss man wenigstens nicht befürchten, dass die Eisverkäuferin einem auf der Suche nach dem Camcorder die Tasche durchwühlt.

Wer ins Kino will, macht sich bei dessen Betreibern nicht beliebt, sondern verdächtig. Wer das Internet nutzt, ist gleich ein potenzieller Krimineller und gehört hinter Gitter. Für die Kriminalisierung von Filesharing hat die Filmindustrie die Losung „Raubkopierer sind Verbrecher“ ausgegeben. Unter dem Law-and-Order-Motto „Hart, aber gerecht“ sollen Werbespots, Plakate und ein „viraler“ Internetspot direkt aufs „fehlende Unrechtsbewusstsein des Endverbrauchers“ zielen. Die Kampagne wurde angelegt, als ginge es um einen Kreuzzug: Furcht und Schrecken verbreiten für eine gerechtere Welt. „Um Verständnis zu bitten, zeigt keinerlei Wirkung“, begründen die Kampagnenmacher von „Zukunft Kino Marketing“ (ZKM) die Wahl der harten Bandagen. Man wolle mit drastischen Motiven „einen Schuss parodistische Übertreibung“ in die Diskussion bringen. Wie viel Humor allerdings in Werbespots steckt, die zur Denunziation aufrufen (die Freundin eines Filesharers droht ihm mit der Polizei) oder offen homophob sind (Gefängnisinsassen werden als potenzielle Vergewaltiger dargestellt), wird wohl ihr Geheimnis bleiben.

Dass es ein Problem gibt, soll nicht bestritten werden. Rund 94 Prozent der Hollywood-Filme und 40 Prozent der Filme aus deutscher Produktion stehen laut einer Studie der Filmwirtschaft vor oder kurz nach Kinostart online zum nicht autorisierten Download zur Verfügung. Die Branche wehrt sich. Knapp 2.000 Verfahren gegen „Raubkopierer“ hat die Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen (GVU) seit Anfang 2005 eingeleitet. Erste Fahndungserfolge gegen professionell agierende Tauschringe sind gelungen.

Niemand verwehrt der Filmwirtschaft ihr Recht, gegen den organisierten illegalen Großvertrieb ihrer Produkte vorzugehen. Aber mit einer Debatte, die in ihrer Rhetorik an Kalte-Kriegs-Hysterie erinnert, werden die realen Probleme (und nicht zu vergessen: die Chancen), die die Digitalisierung für all das aufwirft, was wir bislang unter Kino verstehen, erst recht verfehlt. Vom Vertrauensbruch, der an den Kinozuschauern begangen wird, ganz zu schweigen. Eine Lösung muss gefunden werden. Vorschläge, etwa eine „Kultur-Flatrate“ (www.fairsharing.de) einzuführen, oder Werke zur freien Verfügung als „Creative Commons“ (www.creativecommons.org) auszuzeichnen, sind auf dem Tisch. Andere sind denkbar. Man muss nur einander zuhören und Gemeinsamkeiten finden, anstatt Fronten aufzubauen.

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