Der Fotograf und die Mutter

INTIMITÄT Knut Wolfgang Maron pflegt seine krebskranke Mutter bis zu ihrem Tod und fotografiert sie

„Meine Fotografie ist von Menschlichkeit geprägt. Ich habe meine Mutter nie nackt gesehen. Ich habe versucht, alle ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Aber am Ende, als sie nur noch Töne, ‚i, i, i‘, sagen konnte, förderte das die Sensibilität. Will sie was trinken? Oder will sie was anderes? Zuletzt wollte sie nichts mehr trinken“

KNUT MARON

VON WALTRAUD SCHWAB

Der Fotograf liebt seine Mutter. Beim Fotografieren berührt er sie mit den Augen. Und sie, die gebrechliche Margarete Maron, lässt es zu. Die Kamera bildet die Grenze zwischen Zärtlichkeit und Liebe, Innigkeit und Intimität. Der Fotograf widerspricht: „Die Kamera ist mental gar nicht da. Das ist, wie wenn die Welt aus einem Stück Seife betrachtet wird.“ Seife berührt die Haut.

Fünf Jahre bevor Margarete Maron 2002 starb, begann ihr Sohn, der Fotograf und Wismarer Hochschulprofessor Knut W. Maron, ihren langsamen Verfall zu dokumentieren – ganz nah, ganz vertraut. Da ist die nachdenkliche Frau, deren eines Auge mit einer schwarzen Augenklappe verdeckt ist. Da ist die auf den Stock gestützte Frau, die sich noch einmal vorsichtig durch den Wald tastet, jeder Schritt ein Marathon, die Bäume geben ihr Halt. Da ist die gebeugte Frau, die am Tisch stehend die Porzellantasse an den Mund führt, die Hand auf halber Höhe zwischen Tisch und Mund – zu groß die Anstrengung.

Mit dem Tod der 82 Jahre alten Mutter hört die Suche des Fotografen nach ihr nicht auf. Jede Spur, die sie hinterlassen hat, hält er fest – im Bild. Durch seine fotografische Dokumentation will er alles aus ihrem Leben der Vergänglichkeit entziehen und dokumentiert damit doch nur Vergänglichkeit. Zweieinhalb Jahre lang verändert er nichts im Haus, in dem seine Mutter gelebt hat. Er nimmt alles auf: die übereinandergestellten Töpfe auf dem Herd, die eingemachten Konserven im Keller, die alte Heizdecke, den Christbaumschmuck in der Plastikdose, die mumifizierte Kröte, die Wäsche in den Schränken, das ganze Zeug, das bedeutungslos wird, wenn der fehlt, der ihm Bedeutung gibt. Er sagt: „Zuerst die Küche. Wenn du fertig bist, kannst du dir wenigstens einen Tee kochen. Ich habe ja nichts verrückt.“

Margarete Maron wird 1920 geboren, in Elm, einem Dorf mit 450 Einwohnern, an der Grenze zwischen Hessen, Bayern und Thüringen, wo sich Eisenbahnlinien kreuzen. Ihr Vater war Schreiner. Vier Kinder hat er, dazu Gemüsegarten, Milchkuh und Hühner. Eher zufällig entdeckt Margarete, die Älteste, die Musik. Sie habe ihrem Sohn oft erzählt, dass sie „beim Schöppner“, einem aus dem Dorf, gewesen sei und der habe gesagt: „Mädchen, komm mal her, willste Musik hören?“ Er setzte ihr einen Kopfhörer auf. „Da waren wunderbare Klänge“, sagte sie. Irgendwann wurde im Dorf auch mal ein Film an eine Wand projiziert. Musik und Bilder aus dem Nichts – eine Welt voller Wunder. Das reichte, um eine große Sehnsucht nach Kultur in der jungen Frau zu wecken. Der Fotograf sagt: „Beide, mein Vater und meine Mutter, konnten den Prometheus aufsagen.“

Marons Vater verschlägt die Eisenbahnlinie von Breslau nach Elm. Er kommt aus einer Familie von Heizern. Nach Krieg und Gefangenschaft in Frankreich wird er Handlungsreisender für Waschmittel, für Kosmetika, später wechselt er in den diplomatischen Dienst, „Beziehungen vermutlich“. Die Mutter, die vor der Ehe auf der Post arbeitete, wird Hausfrau, zwei Kinder, 1954 der Sohn. Der Vater sei viel gereist. Der Sohn sagt: „Ich war zu Hause, und mein Vater war immer weg.“

In Paris, wohin die Familie zieht, kann die Mutter endlich ihrer Sehnsucht nach dem Schönen, dem Gebildeten nachgehen. „Wenn Golo Mann im Goethe-Institut war, waren wir da.“ Monets Seerosen, Literatur, Musik, Oper, Louvre, der Denker von Rodin, Höhlenmalerei, Duchamp, Beuys – das zählt der Sohn auf. Er sei mit dem Leitmotiv aufgewaschen: „Dinge sind faszinierend.“ Kunst, Kultur, andere Auffassungen seien faszinierend. „Und Jacques-Henri Lartigues Fotografien haben meine Liebe zur Fotografie geweckt.“ Maron ist Mitglied der renommierten Fotoagentur Gamma.

Zeitlichkeit sei sein Thema, sagt der Fotograf. Seit dreißig Jahren schon. In seinem Werk gehe es um Prozesse von Vergänglichkeit und Entfremdung. Wir seien von der Natur entfremdet. Wir seien als Mensch vom Menschen entfremdet. Wir seien vom Leben entfremdet. Wenn er es sagt, klingt alles absolut, herausgeschleudert als Wahrheit. „Ich meine das nicht so. Ich habe eine Distanz zu mir selbst.“

Seine Fotografie ist kompromisslos. Alles andere auch. Er hört nur Schallplatten. Der Sound: „58.000-mal besser als MP3.“ Er isst keine Hamburger. „Pommes, eine Verletzung des Geschmacks, Bumbum, eine Verletzung der Ohren, Hundescheiß, eine Verletzung der Sensibilität.“ Er fotografiert mit einer alten Nikon F2 Spiegelreflexkamera von 1976, er will keine Farben hochjazzen am Computer. „Soll ich mit einer Technik arbeiten, die alles in den Dreck zieht, wo meine Mutter alles aufgehoben hat?“

Nach der Augenoperation der Mutter 1997 beginnt der Sohn, ihr mit der Kamera zu folgen. „Ich habe gesehen, wie verletzlich sie ist.“ Sie lässt es zu. „Es ist ein Glücksmoment, dass wir so an unserer gemeinsamen Beziehung arbeiten konnten. Wir hatten eine positive Beziehung.“

Später, als die Krankheit sie im Griff hat, Knochenmarkkrebs, Plasmozytom, pflegt er sie. In den letzten drei Monaten war er ununterbrochen bei ihr. Er sagt: „Eine glückliche Fron, ein euphorisierender Rausch bis zur Erschöpfungsgrenze.“ Zuletzt wiegt die Mutter noch 38 Kilo. Er musste sie tragen.

In erster Linie sei er Sohn gewesen, in kontemplativen Momenten erst habe er Fotos gemacht. Er sagt: „Meine Fotografie ist von Menschlichkeit geprägt. Ich habe meine Mutter nie nackt gesehen.“ Auch nicht, wenn er sie gewaschen hat? „Ich habe versucht, alle ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Aber am Ende, als sie nur noch Töne, ‚i, i, i‘, sagen konnte, förderte das die Sensibilität. Will sie was trinken? Will sie was anderes? Zuletzt wollte sie nichts mehr.“ Wenn er von seiner Mutter erzählt, wird seine Stimme jung, sein Gesicht weich. Er sagt: „Jetzt, zehn Jahre nach ihrem Tod, löse ich mich ganz langsam von ihr, wie ich auch ganz langsam als Mensch geboren wurde.“

■ Knut Wolfgang Maron: „Ein Leben“. Vom 22. 2. bis 16. 5. 2013 im Staatlichen Museum Schwerin