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Archiv-Artikel

„Die perfekte Biografie gibt es nicht“

LEBENSLAUF Der Soziologe Ulrich Bröckling über die hohen Anforderungen, das permanente Gefühl des Ungenügens und den Ratschlag, den Druck rauszunehmen

Ulrich Bröckling

■ Jahrgang 1959, ist Professor für Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Vor zwei Jahren erschien von ihm bei Suhrkamp „Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform“.

INTERVIEW EMILIA SMECHOWSKI UND MARGARETE STOKOWSKI

taz: Herr Bröckling, in Ihrem Buch „Das unternehmerische Selbst“ kritisieren Sie die Suche nach dem perfektem Lebenslauf. Was ist so schlimm an dieser Suche?

Ulrich Bröckling: Dass sie notwendig scheitern muss. Wie ein vermeintlich perfekter Lebenslauf aussieht, erfährt man am besten aus einem der unzähligen Bewerbungsratgeber, wie sie in jeder Bahnhofsbuchhandlung liegen. Ein Lebenslauf ist ein genormter Werbetext, mit dem man die eigene Lebensgeschichte so erzählt, dass sie potenzielle Arbeitgeber neugierig macht. Das hat wenig damit zu tun, wie das eigene Leben tatsächlich verlaufen ist und wovon man träumt. Die Anforderungen sind enorm hoch: zügiges Studium, exzellente Noten, ein bunter Strauß an Praktika, breite Fremdsprachenkenntnisse, gesellschaftliches Engagement, Sozialkompetenz. Niemand kann das alles leisten. Also verlegt man sich notgedrungen eher auf dieses oder jenes, lässt anderes schleifen. Das führt dazu, dass man permanent mit dem Gefühl des Ungenügens zu kämpfen hat.

Der perfekte Lebenslauf ist also ein unerreichbares Ideal?

Eine perfekte Biografie, die einem die Sorge nimmt, zu wenig oder das Falsche zu tun, kann es schon deshalb nicht geben, weil alle miteinander konkurrieren. Gäbe es die Idealbiografie, würden alle sich an diesem Ideal orientieren und der Wettbewerbsvorteil fiele weg. Das ist das Paradox jedes Erfolgsrezepts: Es funktioniert nur, wenn es kein Rezept ist und sich eben nicht alle danach richten. Dieser Widerspruch entfaltet jedoch eine ungeheure Mobilisierungswirkung: Er hält die Leute in Bewegung – ähnlich wie im Sport, wo jeder Rekord auch nur der Anreiz ist, ihn zu brechen.

Wie lange geht das gut?

Spätestens bis ich an den Punkt komme, wo ich nicht mehr kann. Etwa wegen einer Krankheit oder im Alter oder wenn ich eine Familie gründen will. Da kommen andere Prioritäten ins Spiel. Das unternehmerische Selbst ist auch ein erschöpftes Selbst.

Ist das unternehmerische Selbst denn noch ein Selbst? Oder ist es völlig fremdbestimmt?

Es ist gleichermaßen selbst- wie fremdbestimmt: Wir sind gezwungen, frei zu sein und uns selbst zu bestimmen – natürlich nach Maßgabe des Marktregimes. Autonomie ist nicht länger etwas, was man mit schwarzen Lederjacken und dem Kampf um selbstbestimmtes Leben und Arbeiten verbindet. Heute soll jeder autonom sein, und dazu selbstverantwortlich und kreativ. Aber wir sollen es eben sein. Das ist so wie mit der Aufforderung „Sei spontan“.

Beschreiben Sie damit nicht bloß die Selbstverwirklichungsideale von AkademikerInnen?

Nein, der Ruf, unternehmerisch zu handeln, richtet sich an alle. Aber nicht in der gleichen Weise, die Tonlage unterscheidet sich: Den einen verspricht man Erfolg, bei anderen mobilisiert man die Angst vor dem sozialem Absturz. Man sollte sich davor hüten, bei der Figur des unternehmerischen Selbst nur an smarte Führungskräfte zu denken. In prekären Mikrounternehmern wie den Flaschensammlern, die wir in den Städten sehen, steckt vielleicht mehr von unserer Zukunft, als uns lieb ist.

Deswegen kritisieren Sie die Entwicklung zum unternehmerischen Selbst.

Jede und jeder kann das kritisieren, weil alle in irgendeiner Weise unter diesem Druck leiden. Die Frage ist, welche Form von Kritik an Verhältnisse heranreicht. Ein unternehmerisches Selbst zu werden, ist ja selbst ein kritisches Projekt, weil es ein Absetzen vom Mainstream verlangt. Eine Kritik daran muss in vieler Hinsicht dem ähnlich sein, was sie kritisiert: Sie muss flexibel und kreativ sein. Eine lokale, punktuelle Kritik, die nicht mehr auf den großen Widerspruch setzt, sondern versucht, sich immer wieder neu von den Zumutungen des Marktes abzusetzen.

Sie können also auch keine allgemeinen Ratschläge geben, wie man dem Aufruf zum unternehmerischen Selbst entkommen kann?

Ratschläge helfen wenig, im Gegenteil, sie machen den Druck oft nur schlimmer. Wenn Sie trotzdem einen hören wollen, dann einen paradoxen: Druck rausnehmen. Ob ein Praktikum, das man heute absolviert, oder ein Studienabschluss, den man heute anstrebt, in fünf Jahren zu einem Job führt, das kann man schlichtweg nicht wissen. Diese Einsicht ist auf der einen Seite enorm belastend: Es gibt keine Gewissheit. Auf der anderen Seite liegt darin auch etwas Entlastendes: Wenn man ohnehin nicht wissen kann, was richtig ist, dann kann man auch nichts wirklich falsch machen. Dann kann man auch das tun, was man gerne macht! Und wenn man an etwas Spaß hat, dann wird man es gut machen.