: Diktatur des Lebenslaufs
SELBSTVERWERTUNG Immer mehr Menschen setzen alles daran, einen spannenden Lebenslauf zu haben. Wohin führt das?
VON EMILIA SMECHOWSKI UND MARGARETE STOKOWSKI
Na, schon Pläne für 2010? Am letzten Tag des Jahres eine gängige Frage. Doch immer mehr junge Menschen planen nicht nur einen schönen Urlaub für das nächste Jahr oder versprechen sich den Abschied von der heißgeliebten Zigarette. Sie basteln stattdessen fleißig am Lebenslauf. Hier diverse Praktika, dort ein Stipendium, eine neue Sprache und dann unbedingt noch ins Ausland. Und nicht zu vergessen: das viel gepriesene soziale Engagement, denn man ist ja kein karrieregeiler Unmensch.
Dabei geht es vor allem um das Aufpolieren einer Fassade. Niemanden interessiert, ob man eine Sprache wirklich fließend spricht und ob die Auslandserfahrung in Australien tatsächlich eine echte Erfahrung im Ausland war. Hauptsache, man kann den Trip später als Horizonterweiterung auf dem Curriculum Vitae verkaufen.
„Es ist schon komisch, wie wir diesem Lebenslauf-Wettrennen verfallen“, findet Julia Schwarz*. Die 24-Jährige studiert Germanistik und Italienisch auf Bachelor und hat festgestellt, dass viele nach einer bestimmten Devise ihre Zukunftsentscheidungen fällen: Was macht sich gut im Lebenslauf? „Alles, was man tut, soll einen Mehrwert bringen“, bemerkt sie. Auch menschliche Kontakte würden funktionalisiert: „Der Begriff des Netzwerkens hat absolut an Wert gewonnen“, sagt Julia. „Früher war das Ganze als Vitamin B verpönt. Jetzt heißt es Netzwerk und man kann Unikurse darin belegen.“
Auch die Manier, jegliches soziale Engagement auf dem Lebenslauf festzuhalten, nimmt groteske Züge an. Dem Personaler soll damit später suggeriert werden: Nein, ich bin kein egoistischer Narziss. Ja, ich schaue ab und zu über den Tellerrand beziehungsweise hinab in die unteren Schichten. Julia findet, dass gerade die Vergabe von Stipendien an einen bizarren Tauschhandel erinnert: „Du beweist uns dein Engagement und wir geben dir ein Stipendium, also Geld dafür. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!“ Dabei profitiert sie selbst auch von dem System, das sie kritisiert: Sie finanziert sich über ein Stipendium einer großen deutschen Stiftung. Bekommen hat sie es unter anderem, weil sie gesellschaftliches Engagement nachweisen konnte.
Der Zwang zur ständigen Optimierung der beruflichen Qualifikationen ist nicht nur, aber auch eine Folge der verschulten Bachelor- und Master-Studiengänge. Studierende gehören zwar immer noch zur privilegiertesten Gruppe ihres Alters. Wie vor einem riesigen Supermarktregal betrachten sie die Palette der fast unendlichen Möglichkeiten. Doch schon im ersten Studienjahr müssen sie die Bandbreite ihrer Interessen eingrenzen und erste berufliche Entscheidungen treffen. Im Modul der „Berufsfeldbezogenen Zusatzqualifikationen“ sind Kurse wie „Training zur beruflichen Orientierung“ oder „Wie kann man mit Samuel Beckett Geld verdienen?“ obligatorisch.
Nach dieser Prämisse der Effizienz hat Axel Rahmlow seine Studienzeit gestaltet, obwohl sein Magisterstudium dies nicht erforderte. Zurzeit schließt der 26-Jährige sein Studium der Amerikanistik, Anglistik und Journalistik ab. Er sagt: „Bei jeder Entscheidung, die ich getroffen habe, habe ich mich gefragt: Was bringt es mir, wo führt es mich hin?“ Genau deshalb absolvierte er ein Praktikum bei der BBC in London. „Von Anfang an war der Gedanke da: Wie cool wäre es, wenn diese drei Buchstaben – BBC – auf meinem Lebenslauf stünden? Ich wusste, jeder Personalfuchs würde erst mal daran hängen bleiben.“ Der Vergleich mit anderen und die Bestätigung seines Egos sind ihm wichtig, das gibt er offen zu. Doch wer einen solchen Verwertbarkeitsmaßstab an seinen Lebenslauf anlegt, entwertet zugleich die eigenen Tätigkeiten: Egal, wie gut oder schlecht die Zeit während des Praktikums ist – was zählt, ist, dass man es getan hat.
Sarah Kuhnt kann diese Art zu leben und zu arbeiten nicht verstehen: „Ich kann doch in meinem Beruf nur dann gut arbeiten, wenn er mir in erster Linie Spaß macht, nicht wenn mein Ansehen dadurch wächst.“ Sarah ist 27 und hat noch nicht den Beruf gefunden, in dem sie ihr Leben lang arbeiten möchte – aber sie sucht auch nicht danach. Sie hat ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt und sich bereits in vielen Bereichen ausprobiert. Zuletzt hat sie eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau in Süßwaren abgeschlossen. Sie arbeitet gern, trotzdem steht der Job bei ihr nie an erster Stelle. Sie will einen klaren Feierabend, um Zeit für Familie und Freunde zu haben.
Arbeiten, um zu leben oder leben, um zu arbeiten – Sandra Hagenauer* dachte bisher immer, es wäre besser, nach der zweiten Devise zu leben. Doch jetzt überlegt sie, ihr Modedesign-Studium abzubrechen, weil sie sich überfordert fühlt und dem immensen Druck nicht mehr standhalten kann. „Wo soll ich meine Kreativität noch hernehmen, wenn ich sieben Tage die Woche an Entwürfen arbeite?“, fragt sich die 24-Jährige. Sie hält sich für kreativ und belastbar, und sie liebt es, Mode zu entwerfen. Trotzdem fühlt sie durch das hohe Arbeitspensum mittlerweile eine Leere in sich. „Ich denke mir die ganze Zeit: Die anderen schaffen es doch auch! Auch wenn ich weiß, dass es Quatsch ist – bei einem Studienabbruch würde ich mich als Versagerin fühlen.“ Denn die Freiheit, aus sich selbst alles machen zu können, ist zwar ein großartiges Versprechen. Doch das Konzept der Eigeninitiative hat seine Tücken: Wo jeder seines Glückes Schmied ist, da ist auch an seinem Unglück jeder selbst schuld. Ungenügend fühlt sich Sandra schon jetzt und spürt, dass sie ihrem eigenen und dem Anspruch der anderen nicht gerecht wird. Auch wenn sie jetzt noch einmal neu anfangen würde, wäre der Druck nicht weg. „Wenn ich mich jetzt noch mal umentscheide, muss es dann auch wirklich das Richtige sein.“ Einen Umbruch in ihrem Leben würde sie nicht als Lernerfolg werten, sondern als Niederlage.
Hinter vielen dieser Überlegungen steht eine sehr hohe Erwartung an das, was heute Arbeit sein soll: nicht bloß ein Job zum Geldverdienen, sondern auch Ausdruck der Persönlichkeit, ein Spiegelbild der vielfältigen Talente und Facetten unseres Selbst. Weh dem, der seinen Job nicht liebt! Er soll beständig fordern, einen kreativ ausfüllen und nie langweilig werden. Jede Pause ist ein Rückschlag, jedes Umdenken immer auch ein Zeitverlust: Selbstverwertung statt Selbstverwirklichung.
Doch woher kommen diese hohen Erwartungen, dieses ständige Begehren nach mehr? Woher kommt das Streben, das eigene Selbst wie eine Ware zu verkaufen?
Treizil Wiesel* kennt das Problem. Er hatte selbst irgendwann das Gefühl, mit seinen eigenen Wünschen nicht mehr übereinzustimmen: Nach sieben Jahren Theologiestudium schreibt der 28-Jährige nun seine Doktorarbeit. Doch das sei nur eine Ausflucht, sagt er: „Ich hab mich zur Promotion nur entschlossen, weil mir klar war, dass ich nicht Pfarrer werden kann. Ich brauchte die Zeit, um zu klären, was ich eigentlich will.“ Und in dieser Zeit wurde ihm klar: Er glaubt nicht an Gott.
Wo andere eine Niederlage sehen würden, ist Treizil froh: „Ich finde das Glück doch nicht, wenn ich einfach nur das durchziehe, was ich mir irgendwann vorgenommen habe.“ Er will zum nächsten Wintersemester ein neues Studium anfangen: einen Bachelor in Ethik und Chemie mit Lehramtsoption. „Ich bin einfach Pädagoge, in allem, was ich mache. In der Gesellschaft ist der Lehrerberuf völlig zu Unrecht schlecht angesehen. Ich habe Lust, da was Neues, Kreatives zu machen.“ Dass er diese Leidenschaft erst so spät entdeckt hat, macht ihm keine Sorgen: „Es ist doch auch eine Frage der Reife, seine Ziele und Fähigkeiten kennen zu lernen.“
Was Treizil sucht, ist keine hippieske Selbstverwirklichung. Ihm geht es darum, sich und sein Leben ernst zu nehmen. Dazu ist es manchmal nötig, alles Bisherige zu verwerfen. Denn darauf kommt es doch an: Das, was man tut, an erster Stelle vor sich selbst verantworten zu können und damit zufrieden zu sein – anstatt wie ein ängstliches Kaninchen gen Zukunft zu blicken und aktionistisch Praktika zu sammeln.
Wie Familie, Freunde oder mögliche Arbeitgeber berufliche Entscheidungen beurteilen, kann nicht das beherrschende Kriterium sein. Welche Zukunft wünschen wir uns selbst, auf welches Ziel arbeiten wir hin?
Auch wenn es viele junge Menschen glauben – niemand ist gezwungen, sich der Diktatur eines normierten Lebenslaufs zu beugen.
* Name von der Redaktion geändert
MARGARETE STOKOWSKI, 23, kommt aus Polen, Neukölln und Zehlendorf, hat gerade ihren Bachelor in Philosophie gemacht und plant als nächstes den Umsturz des Systems
EMILIA SMECHOWSKI, 26, gebürtige Polin, studiert jetzt – nach einer klassischen Gesangsausbildung – Italienisch und Französisch an der Humboldt-Universität in Berlin