DIE SCHWEIZ UND DER VOLKSENTSCHEID GEGEN MINARETTE
: Was ist Demokratie?

Gott und die Welt

MICHA BRUMLIK

Die plebiszitäre Verfassungsänderung der Schweiz, die das Grundrecht auf Artikulation des religiösen Bekenntnisses verletzt hat, gibt erneut Anlass, über das Verhältnis von Demokratie und Freiheit nachzudenken. Für den Historiker Heinrich August Winkler, der dieser Frage in seiner brillanten „Geschichte des Westens“ nachgegangen ist, scheint der Fall klar: Politische Freiheit besteht vor allem darin, durch Ewigkeitsklauseln und verfassungsgerichtlich garantierte Grundrechte gegen die Tyrannei der Mehrheit geschützt zu sein; ein Argument, das radikale Theoretiker unter Bezug auf den Philosophen John Dewey zurückweisen. Deweys Überzeugung nach ist das einzige Heilmittel gegen demokratische Unzulänglichkeiten mehr Demokratie. Dabei bleibt freilich ungeklärt, was genau „Demokratie“ ist – Dewey dachte eher an eine solidarische Lebensform als an ein Institutionensystem.

Ein Blick auf neueste politische Philosophie zeigt, dass das radikalste Nachdenken über „Demokratie“ derzeit jenseits des Rheins stattfindet. In den Arbeiten von Alain Badiou, Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy und Jacques Rancière werden im Rückgang auf die Geschichte der Antike und im Gestus eines an Reformen ausdrücklich desinteressierten Denkens Neubestimmungen vorgenommen, deren Wirkung noch unabsehbar ist.

Badiou stellt fest, dass zahlreiche Intellektuelle unter dem Druck der Umstände ihrem Glauben an eine emanzipatorische Revolution untreu geworden sind. Sie würden sich der öffentlichen Meinung beugen und der kapitalistischen Wirtschaft und der parlamentarischen Demokratie das Wort reden. Damit hätten sie sich im Bereich der „Philosophie“ ihren Feinden ergeben: humanitärem Individualismus und einem der liberalen Verteidigung der Rechte gegen mögliche Zwänge organisierten Engagement. Minder harsch argumentierte Derrida, der – ohne demokratische Institutionen direkt anzugreifen – ihre Begriffe der Dekonstruktion unterzog und dabei in einer „democratie à venir“ stets an künftige Formen politischen Zusammenlebens erinnerte. Traditionell gesprochen tat Derrida damit nichts anderes, als „Demokratie“ zu einer regulativen Idee umzudeuten.

Nancy und Rancière genügt das nicht. Während Nancy darauf hinweist, dass es „Demo-Kratie“ und eben nicht „Demo-Archie“ heißt, die Demokratie also ein Grund-loses, jenseits aller konkreten Politik stehendes Motiv darstellt, vertieft Rancière diesen Gedanken. Im Unterschied sowohl zu liberalen Rechtsverhältnissen, die er ohne Häme als „Polizei“ bezeichnet, als auch zu (emanzipatorischen) Bewegungen – sie gelten ihm als „Subjektivierungsformen“ – bezeichnet „Demokratie“ den stets möglichen, nie auf Dauer zu stellenden Bruch mit herrschenden Institutionen. Rancierès soziologische Hypothese lautet in diesem Kontext, dass die vermeintlich alternativlose Hegemonie parlamentarischer Demokratien im Westen einem Rechtsradikalismus als einzig verbliebene Subjektivierungsform Vorschub leistet. Der Schweizer Volksentscheid jedenfalls wäre damit erklärt.

Laut Nancy und Rancière könne „Demokratie“ nichts anderes sein als der unbegründbare und nie institutionalisierbare Anspruch auf Mitbestimmung. „Demokratie“ könne somit nie anders in Erscheinung treten denn als charismatischer Augenblick. Damit sind die französischen Philosophen ihren liberal-konservativen Gegnern jedoch näher, als ihnen lieb sein kann.

Es war Hannah Arendt, die 1776 höher als 1789 schätzte und in der US-Revolution die institutionelle Begründung der Freiheit verwirklicht sah. Zugleich war Arendt glühende Verfechterin des Rätegedankens. Beides wurzelt in ihrer Idealisierung der griechischen Polis, in der jene, die mitreden durften und nicht arbeiten mussten, ihr Leben im öffentlichen Handeln erfüllt sahen. Im öffentlichen Raum erkennt Arendt die Erfüllung, nicht aber den Grund menschlicher Existenz und gibt damit avant la lettre Nancy und Rancière recht: „Demokratie“ hat keinen festen Grund! Dann aber ist die institutionelle Sicherung der Freiheit unverzichtbar und die Schweizer, jene späten Erben der griechischen Polis, hätten bewiesen, dass liberal-konservative Kritiker der Französischen Revolution und der US-amerikanischen town-hall democracy nach wie vor recht haben.

■ Micha Brumlik ist Publizist und Professor an der Universität Frankfurt am Main