: Ein Schiff wird kommen
SEEFAHRT Auf dem Atlantik treibt ein rostiges Schiff gen Europa. An Bord der 100 Meter langen „Lyubov Orlova“ sind nur Ratten, Chemikalien, Öl und Asbest. Wann sie eine Küste erreicht, weiß niemand zu sagen. Keiner kümmert sich um das Geisterschiff. Doch Irland rüstet sich für die Ankunft des Wracks
■ Geisterschiffe haben die Menschen schon immer fasziniert, sie kommen in der Literatur (Conan Doyle, Hauff, Stoker, Poe, Traven), im Film (Disney, Carpenter etc.) und sogar in der Oper (Richard Wagner) vor. Doch sie existieren auch in der Realität.
■ Der Schoner „Carroll A. Deering“ wurde im Januar 1921 unter vollen Segeln am Kap Hatteras an der Ostküste der Vereinigte Staaten gestrandet aufgefunden. Die Rettungsboote und die Navigationsgeräte waren verschwunden, ebenso die elf Männer der Mannschaft, von denen keiner jemals wieder aufgetaucht ist. Trotz mehrerer offizieller Untersuchungen konnte nie geklärt werden, was an Bord geschehen war.
■ Ein weiteres Geisterschiff war die „Baychimo“. Der Frachter versorgte abgelegene Siedlungen in den kanadischen Nordwestterritorien und in Alaska. Im Oktober 1931 wurde das Schiff im Packeis eingeschlossen und von der Besatzung aufgegeben. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten, zuletzt im Jahr 1969, wurde das treibende Schiff immer wieder gesichtet.
■ Die japanische „Ryou-Un Maru“ war seit dem Tsunami am 11. März 2011 vermisst. Man nahm an, dass sie gesunken sei, doch sie trieb mehr als ein Jahr lang auf dem Pazifik, bis sie von einem kanadischen Schiff aufgefunden wurde. Die US-Küstenwache versenkte die „Ryou-Un Maru“ am 5. April 2012, weil sie eine Gefahr für den Schiffsverkehr darstellte. (raso)
AUS DUBLIN RALF SOTSCHECK
Irgendwo im Atlantik treibt seit einem Monat ein Wrack ohne Passagiere und Besatzung. Die „Lyubov Orlova“ scheint die Winterstürme auf dem Meer bisher unbeschadet überstanden zu haben, zuletzt wurde sie am Wochenende angeblich 1.700 Kilometer westlich von Irland gesichtet. Ob und wann sie in irischen Hoheitsgewässern auftauchen wird, ist ungewiss: Da sich nur Ratten an Bord befinden, liegt das Schiff nicht sehr tief im Wasser, sodass nicht so sehr die Strömungen, sondern eher Wind und Wellen ihre Richtung bestimmen. Die irische Küstenwache ist in Alarmbereitschaft. Ihr Direktor Chris Reynolds sagt, man habe keine Lust, den aus Kanada herantreibenden Schrotthaufen aufgebürdet zu bekommen.
Eigentlich sollte der Schlepper „Charlene Hunt“ der US-amerikanischen Reederei Hunt Marine die „Lyubov Orlova“ von Kanada aus in die Dominikanische Republik zum Abwracken schleppen, doch gleich am ersten Tag der Reise riss das Seil. Der Mannschaft gelang es wegen eines Sturms mit drei Meter hohen Wellen nicht, den Kahn wieder einzufangen. Die kanadische Behörde Transport Canada schickte daraufhin ein Versorgungsschiff der Ölindustrie, um die „Lyubov Orlova“ daran zu hindern, sich den kanadischen Öl- und Gasbohrinseln, von denen sie nur noch 40 Kilometer entfernt war, weiter zu nähern.
Es gelang, das Schiff in internationale Gewässer zu bugsieren, woraufhin Transport Canada anordnete, das Schleppseil zu kappen und die „Lyubov Orlova“ ihrem Schicksal zu überlassen. „Das Schiff stellt keine Gefahr mehr für die Sicherheit der Ölbohrinseln, der Arbeiter oder der Umwelt dar“, hieß es in einer Erklärung. „Das Schiff ist in internationale Gewässer getrieben, und wegen der vorherrschenden Winde ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie in kanadische Hoheitsgewässer zurückdriften wird.“ Aus Sicherheitsgründen nehme man von einer Bergungsaktion Abstand. Dafür seien die Eigentümer zuständig.
Das war bis 2010 die ehemals sowjetische Far East Shipping Company, die das Kreuzfahrtschiff sowie das Schwesterschiff „Alla Tarasova“ 1976 in Jugoslawien in Auftrag gegeben hatte. Bei beiden Schiffen war der Rumpf verstärkt worden, damit er gegen treibende Eisberge gewappnet war, denn sie sollten auf Kreuzfahrten in der Arktis und Antarktis eingesetzt werden. Die „Alla Tarasova“ lief 2009 bei einer Kreuzfahrt zur Nordwestpassage auf einen angeblich unbekannten Felsen im Nunavut’s Coronation Gulf, der in Wirklichkeit jedoch auf den Seekarten verzeichnet war.
Die „Lyubov Orlova“, die einmal Platz für 122 Passagiere hatte und unter der Flagge der Cook Islands fuhr, ist nach der Schauspielerin Lyubow Petrowna Orlowa benannt, dem ersten großen Star des sowjetischen Kinos. Die 1902 in Zwenigorod bei Moskau geborene Orlowa wurde von Stalin gefördert und erhielt 1950 als erste Frau den Ehrentitel „Volkskünstler der UdSSR“. 1972 gab die sowjetische Astronomin Lyudmila Zhurawlowa dem von ihr entdeckten Miniplaneten 3108 den Namen „Orlowa“.
Das rund hundert Meter lange Schiff wurde vor allem von kanadischen und US-amerikanischen Reedereien gechartert. 1999 und 2002 wurde die „Lyubov Orlova“ generalüberholt, um den betuchten Passagieren mehr Komfort zu bieten. Bei einer dieser Kreuzfahrten lief das Schiff 2006 vor der antarktischen Vulkaninsel Deception Island auf Grund und musste von einem spanischen Eisbrecher abgeschleppt werden. Im September 2010 setzten die Behörde von St. John’s in Neufundland das Schiff schließlich fest, weil die kanadische Charterfirma Cruise North Expeditions die Eigentümer auf Schadensersatz in Höhe von 251.000 US-Dollar wegen entgangener Einkünfte verklagt hatte: Das Schiff hatte so gravierende Mängel, dass mehrere Kreuzfahrten abgesagt werden mussten, argumentierte man vor Gericht. Darüber hinaus war die Mannschaft – 49 Russen und zwei Ukrainer – seit fünf Monaten nicht bezahlt worden. Die Crew saß sechs Wochen lang in Kanada fest. Erst dann konnten die 51 Mann nach Intervention der russischen Regierung nach Hause fliegen.
Die russischen Eigentümer hatten das Schiff nach der Beschlagnahmung aufgegeben, voriges Jahr verkauften es die kanadischen Behörden für 275.000 Dollar an den iranischen Schrotthändler Reza Shoeybi, der das Schiff in der Dominikanischen Republik abwracken lassen wollte. Doch der rostige Kreuzfahrer hatte andere Pläne und treibt seitdem gen Osten.
Letzte Position: 49° 22’ 70’’ Nord, 044° 51’ 34’’ West
Lange wussten die Behörden nicht einmal, wo sich das Geisterschiff befand, weil das Ortungsgerät an Bord nicht mehr funktioniert. Vorvergangene Woche gab die National Geospatial-Intelligence Agency des US-Verteidigungsministeriums bekannt, man habe die „Lyubov Orlova“ geortet. Die Agenten gaben die Position mit 49° 22’ 70’’ N und 044° 51’ 34’’ W an.
Kurz darauf empfing das Koordinationszentrum zur Rettung in Seenot geratener Schiffe im kanadischen Halifax ein Signal von der Notrufbake der „Lyubov Orlova“. Das ist ein kleiner Funksender, mit dem Hilfskräfte die Position von Schiffen in Not orten können. Solche Signale können manuell oder automatisch aktiviert werden. Da niemand an Bord ist, wurde das Signal entweder durch einen Schlag oder durch Kontakt des Funksenders mit Wasser ausgelöst. „Die Bake könnte durch einen Stoß aktiviert worden sein“, glaubt auch Kapitän Wayne Jarvis vom Koordinationszentrum. „Andererseits könnte das Schiff auch gesunken sein. Man kann derzeit nur spekulieren. Wir beobachten die Position, um sicherzustellen, dass niemand mit dem Schiff zusammenstößt, aber ansonsten unternehmen wir nichts.“ Vermutlich ist die Bake aber in einem Rettungsboot über Bord gegangen, denn sie sandte das Signal von einer Position 51° 46’ 00’’ N und 035° 41’ 00’’ W aus, die nicht mit der Ortung des Schiffes durch das US-Verteidigungsministerium übereinstimmt.
Das Geisterschiff stelle eine „akute Gefahr“ dar, weil es in ein Gebiet mit hohem Verkehrsaufkommen getrieben werden könnte, meint die französische Umweltschutzorganisation Robin des Bois. Wenn das Wrack einem anderen Schiff in die Quere komme oder sinke, werden große Mengen an Treibstoff, Chemikalien, Asbest und andere giftige Stoffe ins Meer gelangen, sagte Jacky Bonnemain, Sprecher von Robin des Bois. Für Schiffe mit Passagieren gebe es ein internationales Abkommen zur Rettung von Menschen auf offener See, doch für ein leeres Schiff sei niemand zuständig. Er fordert eine internationale Aktion zur Bergung der „Lyubov Orlova“.
Daran hat jedoch niemand Interesse. Allen Beteiligten würde wohl ein Stein vom Herzen fallen, wenn das Schiff sang- und klanglos im Atlantik verschwindet. Einen Zweck erfüllt die „Lyubov Orlova“ aber doch: Sie ist ein Testfall für ein globales Marine-Überwachungssystem. Dieses System ist von Guy Thomas, bis zu seiner Pensionierung wissenschaftlicher Berater der US-Küstenwache, entwickelt worden, es stützt sich auf vier bereits existierende Satelliten.
Thomas arbeitet mit der irischen Küstenwache zusammen und versprach deren Direktor Chris Reynolds: „Wir werden das Schiff finden. Bevor es überhaupt in die Nähe irischer Gewässer kommt, werden wir in der Lage sein, die Marine aller möglichen Länder über seine Position zu informieren.“ Irgendjemand wird den Kahn dann schon versenken. Das würde Reynolds erleichtern. Falls der Schrotthaufen nämlich in das Hoheitsgewässer eines Landes treibt, müssten die dortigen Behörden aufgrund des UNO-Seerechtsübereinkommens intervenieren.