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Archiv-Artikel

Zwölf Zille Stach!

Die faszinierende Welt des Autoquartetts

Bevor ich ungefähr zehn Jahre später den Führerschein dritter Klasse machte, besaß ich schon einen gewaltigen Fuhrpark. Meine Mutter nannte ihn „Staubfänger“, denn ich parkte meine etwa 50 Kraftfahrzeuge auf den Fensterbänken von Kinder- und Esszimmer, hinter den Gardinen mit der Goldkante, für die Frau Marianne Koch im Fernsehen Werbung machte.

Mit der Größe meiner Matchbox-Auto-Sammlung lag ich im gehobenen Mittelfeld meines Matchbox-Autos-Sammler-Bekannten-Kreises. Unsere Väter fuhren VW-Käfer, Fiat 600 und Ford Taunus. Wir waren die Söhne, denen sie immer damit drohten, dass sie es später mal besser haben sollten als sie selbst. Im Pkw-Segment hatten wir sie aber schon überholt, bevor wir mit den Füßen an die Gaspedale ihrer Kleinwagen reichten. Wir fuhren nämlich beidhändig, und zwar Jaguar-E-Type, Ford Mustang und die Citroën DS, die aber in unserer Vorpubertät noch dem männlichen Geschlecht angehörte und deswegen „Der Zitröhn“ hieß.

Auto-theoretisch konnten unsere Alten uns schon längst nicht mehr an die Karre pinkeln. Wir besaßen nicht nur die heißeren Kisten, wir hatten auch die besseren Karten.

„300 SEL sechstausendfünfhundert Kubik“. Der dicke Benz schlug mit seinem versoffenen Hubraum alle anderen. Damit kassierte man ab. Beim Autoquartett kommt es darauf an, dass man weiß, was unter der Haube steckt. Wir hatten keine Ahnung, was Hubraum bedeutet, dass aber die sechseinhalb Liter des 300 SEL viel mehr waren als die pisseligen Einskommadrei des Alfa Romeo Giulietta Sprint, das war klar wie Kraftstoff. Deswegen reichte uns Experten auch die kurze Ansage „300 Hub“, damit die anderen ihre Karten rausrückten. Jeder wusste, das ist der goldene Mercedes mit den Doppelscheinwerfern, der stach mit „sechseinhalb Hub“. War man dagegen mit dem „Rohmeo-Dschiletta“ in der Vorhand, rief man dessen „6.500 UM“ auf. „UM“ waren die Umdrehungen pro Minute. Kein Schimmer, was das für Umdrehungen waren, es waren aber auf jeden Fall mehr als die „4.000 UM“ des „SEL 300 Hub“. Also: „Stich“ für mich beziehungsweise „Stach“. Ich sagte „Stach“, weil … wir sagten alle „Stach“, weil, ja wahrscheinlich, weil „Stach“ besser klong als „Stich“.

Autoquartett spielen hieß auch, eine ganz besondere Sprache zu sprechen, eine im Nachhinein nicht mehr vollständig zu entschlüsselnde, im Geheimcode unseres Achtjährigenkosmos entwickelte Superspezialsprache.

„Zwölf Zille Stach!“ Kann sein, dass das irgendein „Mase“ war, also ein Maserati mit „Speich“. Mit Speichenrädern also. „Zwölf Zille Mase mit Speich“ stach im Zylinderbereich mit zwölf Stück; der „Schewro“, vulgo: der Chevrolet, stach dagegen mit seinem außergewöhnlichen Ami-Automatikgetriebe, und zwar wie? Wahrscheinlich ungefähr so: „Schewro-Camarro Auto Stach!“

Selbstverständlich gab es auch absolute Nieten beim Autoquartett. Machte aber nix. Selbst Nieten können stechen, wenn man um ihre einzigen Einzigartigkeiten weiß und wenn man in der Vorhand ist. Mit dem Ro 80 in der Hinterhand zu sein, war aussichtslos. Den Ro 80, diese blassrosafarbene Lusche, konnte man direkt rausrücken, wenn ein anderer auftrumpfte. Der Ro 80 hatte keiner anderen Karre irgendwas entgegenzusetzen. Keine „Zille“, keinen „Hub“, keine „UMs“, kein gar nichts. Mit dem Ro 80 konnte man nur trumpfen, wenn man als Erster aufspielte. Denn der Ro 80 war der einzige „Wankel“ im Quartett. Also kein Otto- und kein Boxer- und kein Irgendwas-Normales- Motor, sondern eben ein Wankelmotor. Das klang schon so bescheuert: „Wankel“. War aber egal, denn „Wankel“ hatte kein anderer. War man also Vorhand und hatte Ro 80 oben liegen, rief man einfach „Ro 80, gebraten 160, Wankel“ und alle anderen mussten ihre Karten abgeben.

Der „Ro-80-gebraten-160“-Witz war anfangs nur Rüdiger vorbehalten. Rüdiger hatte ihn erfunden, machte ihn aber nach der Erfindung so oft und so immer, dass er irgendwann zum Allgemeinsprachgut aufstieg.

Rüdiger-Ro-80-gebraten-160, ich und die anderen Jungs spielten immer Autoquartett. Die affigen Blockflötenzicken aus der Mädchen-Parallelklasse spielten Komponistenquartett. Keine Ahnung, was da Trumpf war, wahrscheinlich „Mozart 10.000 Noten Stach“. Wir Jungens aber spielten Autoquartett. Immer. Auf dem Schulhof in der Pause. Vor und nach der Pause im Unterricht im Klassenraum der Schule. Vor und nach der Schule, in der immer von uns mit der Ansage „Letzte Reihe!!!“ reservierten letzten Reihe im Schulbus, spielten wir: Autoquartett. Es sei denn, wir spielten Flugzeugquartett. Oder Schiffequartett. Es sei denn, wir schingelten.

„Schingeln“ war ein anderes Spiel, das anderswo auch „Schangeln“ genannt wurde. Karten spielten dabei nicht mit. Beim Schingeln und/oder Schangeln warfen wir kleine Geldmünzen vor Hauswände und dann … na ja, die Regeln sind schon arg kompliziert. Ihre Erläuterung würde Sie möglicherweise überfordern. Aber nicht nur Sie. Auch mich.

Ich muss mich nämlich jetzt auf etwas anderes konzentrieren. Auf eine Niederlage. Ich bin zum Autoquartettspielen verabredet. Mit ein paar Achtjährigen aus meinem Bekanntenkreis. Wir spielen zu ihren Bedingungen, das heißt: Mit einem ganz neuen Blatt, Jahrgang 2006. Und ich bezweifle sehr stark, dass da noch irgendeine mir bekannte „Zille-Hub-UM-Stach“-Karte vorkommt, mit der ich im Teilnehmerfeld ganz weit vorne fahren könnte. FRITZ ECKENGA